Kleiner Rückblick auf die Geschichte Afghanistans
Die Macht des afghanischen Königs reichte bis zu seinem Sturz 1973 kaum über die Hauptstadt Kabul und die drei anderen großen Städte (Herat, Kandahar, Mazar-i-Sharif) hinaus. Der Rest des Landes war unter Kontrolle lokaler Herrscher (Clan-Chefs, Stammesführer). Die Staatsgewalt in Form von Polizei und Militär gab es nur in den wenigen großen Städten. Die Clan-Chefs verfügten de facto über eigene Streitkräfte, dadurch dass alle Männer in Afghanistan Waffen trugen und die Autorität des Führers ihres Clans anerkannten. Die Verfassung und die wenigen Gesetze, die in Kabul verabschiedet wurden, wurden in der Provinz ignoriert. Für viele Bereiche der Gesellschaft gab es überhaupt keine gesetzlichen Regelungen (z. B. Straßenverkehrsrecht). Die Grundlage der Rechtsprechung war der Koran. Die Rechtsprechung wurde in der Provinz vom islamischen Klerus oder den Clan-Chefs selbst ausgeübt. Behörden der Zentralregierung oder staatliche Infrastruktur gab in der Provinz nicht, ebenso wenig wie eine Erhebung von Steuern durch die Zentralregierung. Die Clan-Chefs fühlten sich an Anordnungen aus Kabul nicht gebunden. Besonders die lokalen Machthaber, deren Wohlstand auf dem Anbau von Schlafmohn und Cannabis, sowie deren Weiterverarbeitung (Opium - Weltmarktanteil 90% -, Heroin, Haschisch) beruhten, legten Wert auf eine große Distanz zur Zentralregierung und konnten durch ihren Wohlstand die Loyalität der Bevölkerung sichern.
Auch nach dem Militärputsch 1973 änderte sich an der
Machtstruktur des Landes wenig. Der neue Machthaber – ein Cousin des Königs –
rief die Republik aus.
1978 putschte sich dann der prosowjetische Teil des Militärs
an die Macht. Die neue Regierung plante, zusammen mit der kleinen
kommunistischen Partei, die vorwiegend aus Akademikern bestand, die in der
Sowjetunion studiert hatten und in Kabul lebten, weitreichende Reformen: eine
Landreform sollten den Bauern und Landarbeitern mehr Rechte geben, die Rechte
der Frauen sollten gestärkt werden (Schulpflicht, Verbot der Zwangsheirat,
Aufhebung der Pflicht zur Verschleierung). Damit hofften sie wohl, die
Machtbasis der linken Zentralregierung zu stärken und die der konservativen
lokalen Machthaber zu schwächen. Sie schienen jedoch die Kultur ihres eigenen
Landes nicht zu kennen: die lokalen Machthaber verwandelten sich über Nacht in
‚warlords‘ – Waffen waren in der (männlichen) Bevölkerung ja genügend
vorhanden. Die ländliche Bevölkerung, denen die Reformen dienen sollten, zogen
unter der Leitung ihrer lokalen Herrscher, von denen sie befreit werden
sollten, in den Krieg gegen die Zentralregierung. Die Begründung lieferte die
Religion: die neue Regierung wurde als gottlose Atheisten, als Vertreter des Teufels
gegeißelt. Tatsächlich ging es den lokalen Herrschern wohl eher darum, die
Kontrolle über ihre Territorien, über die Frauen und den Drogenanbau zu
erhalten. In kürzester Zeit hatten die islamischen Milizen das ganze Land außer
Kabul erobert. In dieser Situation forderte die prosowjetische Regierung
militärische Unterstützung von der Sowjet-Union an.
Spätestens jetzt wurde Afghanistan in den Ost-West-Konflikt
eingebaut. Alle islamischen Milizen wurden aus den USA, aber auch von
Saudi-Arabien und Pakistan mit großzügiger finanzieller und militärischer Hilfe
bedacht. Ziel war, die Erweiterung des sowjetischen Einflussbereichs zu
verhindern. Die islamischen Milizionäre wurden in den westlichen Medien
‚Freiheitskämpfer‘ genannt, während ihre in westlich orientierten Ländern
tätigen Gesinnungsgenossen ‚islamische Terroristen‘ hießen. Die Tatsache, dass
die politischen Ziele der islamischen Milizen mit den westlichen Werten nichts
zu tun hatten, war dem Westen egal.
Nachdem Gorbachov 1989 die sowjetischen Truppen abgezogen
hatte, blieb die prosowjetische Regierung noch 2 Jahre in Kabul an der Macht –
der Rest des Landes war seit über 10 Jahren bereits weitgehend unter Kontrolle
der Islamisten. 1992 wurde auch Kabul von den Islamisten erobert.
Nun entstand das Problem, aus den Führern der verschiedenen
islamischen Milizen eine neue Zentralregierung zu bilden. Dies führte zu einem
neuen Bürgerkrieg in Kabul zwischen den bislang verbündeten islamischen Milizen
– wobei auch der ethnische Hintergrund (Paschtunen, Tadschiken, Hazara,
Usbeken) eine Rolle spielte. Auf dem Land stabilisierten die lokalen Machthaber
ihre Macht mangels funktionierender Zentralregierung.
Die Machtkämpfe in Kabul missfielen den lokalen Machthabern
und den Flüchtlingen in Pakistan. 1994 bildete sich in den Flüchtlingslagern
eine neue radikal-islamische Miliz unter dem Namen ‚Taliban‘. Diese Miliz
eroberte in kürzester Zeit fast ganz Afghanistan. In den meisten Fällen wurden
die Städte und Regionen kampflos erobert – die lokalen Machthaber wechselten
einfach Seiten. Ideologisch waren die Differenzen zu den Milizen, die in Kabul
um die Macht kämpften, ohnehin gering.
Die Taliban eroberten 1996 Kabul, nicht jedoch zwei
nordöstliche Provinzen, in die sich die Führer der gestürzten Regierung als
‚Vereinigte Front‘ (Massud, Dostum) zurückzogen. Die Taliban schockierten die
westliche Welt durch ihr radikales Programm (Verbot von Schulbesuch und
Berufstätigkeit von Frauen, Verbot westlicher Musik, Anwendung der Scharia).
Die Regierung der Taliban wurde international nur von Saudi-Arabien, den
Vereinigten Emiraten und Pakistan anerkannt. Sonstige politische oder
militärische Reaktionen des Westens gab es zunächst nicht.
Die Herrschaft der Taliban veränderte das Leben in Kabul und
den großen Städten, zumindest für die kleine westlich orientierte Mittel- und
Oberschicht, die noch nicht ins Ausland geflohen war. Auf dem Lande, wo die
Frauen ohnehin nicht in die Schule gingen oder außer Haus berufstätig waren, (d.h.
für 90% der Bevölkerung) änderte sich vermutlich wenig.
Dann kam der 11. September 2001. Nach dem Terroranschlag
Al-Kaidas entstand in der amerikanischen Öffentlichkeit das Bedürfnis nach
Rache und Vergeltung. Präsident Bush wäre als Schwächlich, Feigling und Loser
in die Geschichte eingegangen, wenn er nicht mindestens einen spektakulären Gegenschlag
mit zahlreichen muslimischen Opfern unternommen hätte. Das Problem war, dass
Al-Kaida kein Territorium beherrschte, das man bombardieren oder besetzen konnte.
Allerdings hatte der Al-Kaida-Führer Osama Bin Laden sich eine Zeit lang in
Afghanistan versteckt. Dies reichte als Begründung für das Ziel der USA, einen ‚Regime
Change‘ für Afghanistan anzustreben. Die offizielle Begründung war, dass sich
die Sicherheit der USA erhöht, wenn islamische Terroristen keinen Unterschlupf
mehr in Afghanistan finden können. Dass Terroranschläge auch aus Verstecken in
anderen Ländern organisiert werden können, interessierte nicht, dass die
Taliban selbst keine Anschläge im Ausland durchgeführt hatten, ebenfalls nicht.
Der Regime Change in Afghanistan war eine militärisch oder sicherheitspolitisch
überflüssige Machtdemonstration zur Befriedigung der nationalistischen Gefühle
der US-amerikanischen Wählerschaft, die kein US-Präsident ignorieren kann.
Zunächst wurden keine eigenen Bodentruppen eingesetzt,
sondern die Überreste der Milizen der Vorgängerregierung eingesetzt, ausgehend
von den zwei Provinzen im Nordosten, die sie noch kontrollierten. Mit
amerikanischer Unterstützung eroberten sie innerhalb kürzester Zeit fast ohne
Kämpfe ganz Afghanistan. D. h. die lokalen Machthaber, die 5 Jahre zuvor
kampflos zu den Taliban gewechselt waren, wechselten ebenso kampflos wieder
zurück zu den vorherigen politischen Kräften.
In Kabul bildete sich aus den islamischen Milizen 2001 eine
neue Regierung, die auf Druck des Westens eine demokratische Verfassung nach
westlichem Vorbild erarbeiten ließ. Die neue Regierung wurde mit NATO-Truppen
vor den weiter im Untergrund aktiven Taliban geschützt – 20 Jahre lang.
Nach dem Abzug der NATO-Truppen 2021 eroberten die Taliban
ein zweites Mal kampflos in großer Geschwindigkeit das ganze Land. D.h. ein
drittes Mal haben die lokalen Machthaber kampflos die Seiten gewechselt.
Wozu dieser Schnelldurchlauf durch die afghanische
Geschichte? Er soll deutlich machen, wer eigentlich die Macht in diesem Land
hat: die lokalen Machthaber außerhalb der großen Städte. Was wollen sie? Schwer
zu sagen, aber man darf vermuten: Erhalt der traditionellen patriarchalischen
Strukturen, Fortsetzung der Unterdrückung der Frauen, keine Landreform, kein
Verbot des Waffenbesitzes, keine Demokratie, keine kulturelle Verwestlichung
bzw. Säkularisierung, und in vielen Fällen kein Verbot des Drogenanbaus. Sowohl
die kommunistische Regierung 1978-1992, an der Macht gehalten durch sowjetische
Truppen, wie die westlich orientierte Regierung 2001-2021, an der Macht
gehalten durch NATO-Truppen, haben versucht, der reaktionären, patriarchalen,
drogenproduzierenden Clan-Gesellschaft ihre Gesellschaftsmodelle aufzuzwingen -
ohne Erfolg.
Die Taliban sind erfolgreich, weil es eine patriarchale,
islamische Clanstruktur gibt, die ihre Macht nicht abgeben will und jede
Regierung mit Waffengewalt stürzt, die ihre jahrhundertealten Privilegien antasten
will. Es ist nicht auszuschließen, dass die Taliban oder ähnliche
radikal-islamische Kräfte in freien Wahlen eine Mehrheit bekämen. Auch wenn die
NATO-Truppen noch weitere Jahrzehnte eine westlich orientierte Regierung an der
Macht halten würde, hätte diese keine Mehrheit in der Gesellschaft. Vielleicht
war das Ansehen der bisherigen Regierung gerade deshalb so gering, weil sie
durch ausländische, nicht- islamische (‚gottlose‘) Truppen an der Macht
gehalten wurde. Dazu kamen Korruption, Unfähigkeit und die Tatsache, dass die
ausländischen Truppen und Drohnen viele unbeteiligte Zivilisten getötet haben.
Kurz, Afghanistan hat jetzt eine Regierung, die es verdient.
Ein gesellschaftlicher Wandel in Richtung Demokratie und Frauenrechte müsste
von innen und unten kommen. Aussichten im Moment: gering.
Vielleicht wächst ja irgendwann eine Generation in
Afghanistan heran, die – auch über Kontakte zu im Westen lebenden Freunden und
Verwandten - neue Werte, Wünsche und politische Forderungen entwickelt, woraus
vielleicht irgendwann ein gesellschaftlicher Wandel entsteht, eine Art
‚afghanischer Frühling‘. Im Moment ist dieser aber nicht in Sicht.