In allen Ländern Europas findet ein
Wandel der Parteienlandschaft statt: die Volksparteien schrumpfen, rechts,
links und in der Mitte entstehen neue Parteien. Streitigkeiten werden
aggressiver, die Regierungsbildung wird immer schwieriger, Regierungen werden
instabiler. Woran liegt’s?
Es lohnt sich, die Veränderungen der letzten 70 Jahre am Beispiel Deutschland Revue passieren zu lassen: die Veränderung der Wirtschaftsstruktur seit den 1950er Jahren, darauf basierend die Veränderung der Sozialstruktur. Dazu die Veränderung der Bevölkerungsstruktur durch sinkende Geburtenraten, steigendes Bildungsniveau, Migration. Darauf basierend der kulturelle Wandel seit den fünfziger Jahren. Die Bevölkerung, deren Interessen die politischen Parteien in den Parlamenten zu vertreten haben, sieht heute anders aus als in den 1950er Jahren. Also ist zu erwarten, dass auch die politischen Parteien und die Parteienlandschaft heute anders aussehen als in der Vergangenheit.
Veränderung der Wirtschaftsstruktur
Die Produktionsstruktur der Industrie verändert sich: die Produktion von Roh- und Grundstoffen (Bergbau, Stahl, Grundstoffchemie) wird in rohstoffreiche Länder mit niedrigen Löhnen, Sozial- und Umweltstandards verlagert. Die Produktion von Massenkonsumgütern wird automatisiert, d.h. einfache, repetitive Arbeit wird durch Maschinen ersetzt. Wenn das nicht möglich ist (z.B. Herstellung von Bekleidung, Elektrogeräten, Haushaltswaren), wird sie in Niedriglohnländer ausgelagert[1].
Was wächst, ist die
forschungsintensive High-Tech-Industrie (z. B. Maschinenbau, Spezialchemie,
Mikroelektronik, Informationstechnologien, Mess- und Regeltechnik,
Energietechnik, Luft- und Raumfahrttechnik, neue Werkstoffe, Pharmazeutika,
Biotechnologie, Medizintechnik etc.). Diese Branchen stehen international mehr
in einem technologischen Wettbewerb als in einem Preiswettbewerb, so dass die
hohen Löhne Deutschlands nicht stören, dafür das hohe Qualifikationsniveau des
Landes einen Standortvorteil darstellt. Die Mechanisierung und Digitalisierung
aller Branchen erzeugen eine wachsende Nachfrage nach Maschinen und Elektronik.
Durch die Globalisierung und das Wachstum der Weltwirtschaft wächst weltweit
die Nachfrage nach High-Tech-Produkten, die vorwiegend in Hochlohnländern
hergestellt werden.
Eine andere
Wachstumsbranche ist die Luxuskonsumgüterindustrie (z. B. Autos, Uhren,
Kosmetik, Mode, Möbel etc. des „Premium Segments“, bei dem hohe Preise zum
Geschäftsmodell gehören und somit die hohen Löhne keine Rolle spielen). Durch
das weltweite Wirtschaftswachstum zusammen mit einer zunehmend ungleichen
Einkommensverteilung wächst überall die Zahl der Reichen und Superreichen und
damit die Nachfrage nach Luxuskonsumgütern.
Im Dienstleistungsbereich
werden ebenfalls Routinetätigkeiten mechanisiert (Computer ersetzen manuelle,
repetitive Büroarbeit) oder an den Kunden übertragen (Online-Banking statt
Bankfilialen, Online-Handel statt Einzelhandel). Wenn sie nicht mechanisiert,
aber online ausgeübt werden können, werden sie gelegentlich auch in
Niedriglohnländer ausgelagert (Buchhaltung, IT-Services, Call Center). Bei den
meisten Dienstleistungen ist jedoch eine Mechanisierung oder Verlagerung ins
Ausland unmöglich (z. B. soziale Dienste, Reinigung).
Was wächst, sind die
wissensintensiven Dienstleistungsunternehmen: Softwareentwicklung und
-beratung, Internet-Dienstleistungen, Betrieb von Rechenzentren,
Telekommunikation, Unternehmensberatung, Ingenieurbüros, Werbung und Design,
Bildung, Medien, Kultur, Finanzindustrie, Rechtsberatung, Gesundheitswesen.
Bei den
Industrieunternehmen, deren Produktion in Niedriglohnländer abwandert, bleiben
meist Forschung und Entwicklung, Design, IT, Buchhaltung, Vertrieb und
Firmenleitung in den Hochlohnländern - also praktisch der 'Dienstleistungsanteil'
der Industriebetriebe (Beispiel Apple, Ikea, Adidas). Auch in allen anderen
Industriebetrieben wächst der Anteil der 'White Collar Worker' auf Kosten der
'Blue Collar Worker'.
Es wachsen aber auch
Dienstleistungssektoren mit einfachen, repetitiven Tätigkeiten, die nicht
automatisiert oder in Niedriglohnländer ausgelagert werden können:
- bei steigendem Wohlstand der Haushalte steigt der Anteil von
Dienstleistungen an der Konsumnachfrage: es werden Dienstleistungen
gekauft, die früher in Eigenarbeit im Haushalt erledigt wurden: Reinigung,
Alten-/Krankenpflege, Kinderbetreuung, Nachhilfe, Freizeit, Umzug,
Reparaturen, Gastronomie, Gartenpflege, Kosmetik etc. Aber auch der Konsum
von 'Luxusdienstleistungen' (Tourismus, Reit-/Segelsport, Gesundheit,
Wellness, Kultur, Anlageberatung) nimmt zu.
- viele Industriegüter werden durch Mechanisierung oder Auslagerung der
Produktion in Niedriglohnländer und durch den Vertrieb über Discounter
oder Online-Vertrieb relativ zum Einkommen immer billiger und lassen einen
immer größeren Anteil des Einkommens übrig für Dienstleistungen. (Für den
Erwerb eines Staubsaugers z.B. arbeitet ein Arbeitnehmer heute im Schnitt
nur einen Bruchteil an Arbeitsstunden im Vergleich zu den 1960er Jahren).
- durch die Alterung der Gesellschaft wächst die Nachfrage nach Pflege-
und medizinischen Dienstleistungen.
- durch die Globalisierung der Produktion und dem Wachstum des Tourismus
wird Transport und Logistik (Straße, Bahn, Luft, Wasser) zu einem
Wachstumssektor.
- der Online-Handel erzeugt neue Hilfstätigkeiten bei Paket- und
Kurierdiensten, Logistikzentren, Call-Centern, oder als digitale Crowd
Worker.
- weitere Wachstumsbranchen mit vorwiegend niedrig qualifiziertem
Personal sind Gebäudemanagement von Wohn-, Büro- und Industriebauten
(Reinigung, Sicherheit, Instandhaltung, Catering), sowie Sammlung und
Wiederverwertung von Wertstoffen (Recycling).
In der Landwirtschaft
findet der Übergang von der bäuerlichen zur industriellen Landwirtschaft statt,
der in Nordamerika z.B. schon viel weiter fortgeschritten ist, d.h. es werden
zahlreiche Arbeitsplätze durch Zusammenlegung von Betrieben und Mechanisierung
vernichtet.
Es findet also ein
ständiger Wandel der Produktions- und Beschäftigungsstruktur statt: neue
Arbeitsplätze entstehen in den Wachstumsbranchen, Arbeitsplätze verschwinden in
den Schrumpfbranchen:
Wachstumsbranchen |
Schrumpfbranchen |
|
Industrie |
High-Tech |
Roh- und
Grundstoffe |
Dienstleistungen |
wissensintensive D. |
manuelle
Büroarbeit |
Landwirtschaft |
|
gesamte
Branche |
Insgesamt verschwanden in der Industrie mehr Arbeitsplätze in den Schrumpfbranchen als neue in den Wachstumsbranchen entstanden. Besonders stark war der Abbau von Industriearbeitsplätzen nach der neoliberalen Wende in den 1980er Jahren und nach der deutschen Wiedervereinigung in den 1990er Jahren. Im Dienstleistungssektor entstanden mehr neue Arbeitsplätze als alte verschwanden. In der Landwirtschaft geht die Beschäftigung kontinuierlich bergab:
Erwerbstätige im
Inland nach Wirtschaftssektoren in Prozent (%):
Landwirtschaft |
Industrie |
Dienstleistungen |
|
1950 |
24,6 |
42,9 |
32,5 |
1960 |
13,7 |
47,9 |
38,3 |
1970 |
8,4 |
46,5 |
45,1 |
1980 |
5,1 |
41,1 |
53,8 |
1990 |
3,5 |
36,6 |
59,9 |
2000 |
1,9 |
28,4 |
69,7 |
2010 |
1,6 |
24,4 |
74,0 |
2020 |
1,3 |
24,0 |
74,7 |
Quelle: DStatis Statistisches Bundesamt
2021
Der Wandel der
Produktions- und Beschäftigungsstruktur ist in Deutschland allerdings
geografisch ungleich verteilt: in einigen Städten und Regionen verschwinden
mehr Arbeitsplätze als neue entstehen - z.B. Ruhrgebiet, Saarland, neue
Bundesländer, einige Mittelstädte wie Wilhelmshaven, Pirmasens, Salzgitter,
Lübeck sowie im ländlichen Raum (Ausnahme touristisch attraktive Regionen wie
Alpenvorland, Bodenseeregion oder Schwarzwald). In anderen Städten und Regionen
entstehen mehr neue Arbeitsplätze als alte verschwinden - z.B. in den
Ballungsgebieten Rhein-Main, Rhein-Neckar, Köln-Düsseldorf, Stuttgart, München,
Hamburg, Berlin, Dresden sowie in einigen Mittelstädten wie Freiburg, Konstanz,
Münster, Regensburg, Oldenburg.
Woran liegt’s? Die
wissensintensiven High-Tech-Branchen konzentrieren sich auf Groß- und
Universitätsstädte mit hoher Freizeitqualität, wo die gesuchten Fachkräfte
entweder schon vorhanden sind oder wo sie gerne hinziehen. In den Klein- und
Industriestädten und im ländlichen Raum gibt es die in den High-Tech-Branchen
benötigten Fachkräfte meist nicht und nur wenige sind bereit, dort hinzuziehen.
Vielmehr wandert von dort ein Teil der jungen Generation ab – zunächst wegen
Ausbildung und Studium, dann wegen der zukunftsträchtigen Arbeitsplätze in den
Dienstleistungsmetropolen. Manche Firmen verlegen sogar aus dem Grund
Verwaltung, Forschung, Entwicklung und Vertrieb in die Großstädte und lassen
nur die Produktion in der Provinz. Als Folge dominieren in den Klein- und
Industriestädten und im ländlichen Raum eher die schrumpfenden Branchen.
Die steigende
Bevölkerungszahl in den Ballungszentren erzeugt als 'Zweitrundeneffekt' eine
steigende Nachfrage nach lokalen Dienstleistungen im Bereich Einzelhandel,
Bildung, Gesundheit, Freizeit, Rechtsberatung, sowie nach gering qualifizierten
Tätigkeiten im Bereich Transport, Gastronomie, Pflege, Reinigung, etc. In den
Klein- und Industriestädten und im ländlichen Raum mit schrumpfender
Bevölkerung gibt es den Zweitrundeneffekt mit umgekehrtem Vorzeichen:
Einzelhandel, Bildungs-, Gesundheits-, Freizeiteinrichtungen etc. verschwinden,
was wiederum den Wunsch nach Abwanderung befördert.
Außerhalb der
Ballungsgebiete und Großstädte findet ein weiterer wirtschaftsgeografischer
Wandel statt: die schrumpfenden lokalen Dienstleistungen (Einzelhandel,
Handwerk, Schulen, Gesundheitswesen, Freizeit) konzentrieren sich auf die
'Mittelzentren' (Kleinstädte mit mindestens 10 000 Einwohnern), während sie auf
dem Lande ganz verschwinden. Die meisten Dörfer haben kaum noch Arbeitsplätze
(außerhalb der hochtechnisierten Landwirtschaft), sondern dienen nur noch als
Wohnort. Für alle anderen Zwecke des täglichen Lebens sowie für die Arbeit müssen
größere Entfernungen zurückgelegt werden.
Der Wandel der
Wirtschaftsstruktur erzeugt einen Wandel der Sozialstruktur: Zuwachs an
hoch qualifizierten und bezahlten Angestellten, Rückgang an
Industrie- und Büroarbeitern mit mittlerer und geringer Qualifikation, Zuwachs an
gering qualifizierten und bezahlten Beschäftigten im haushaltsnahen und
sozialen Dienstleistungssektor, sowie Rückgang an Beschäftigten in
der Landwirtschaft. Der Wandel der Sozialstruktur verstärkt die
Einkommensgegensätze: es gibt mehr Beschäftigte mit hohen, weniger mit
mittleren und mehr mit niedrigen Einkommen[2].
Besonders problematisch waren die Stellenverluste in der industriellen Mittelschicht
in den 1980er und 1990er Jahren: vielen freigesetzten Arbeitnehmern gelang es
nicht, eine gleichwertige oder gar höherwertige Beschäftigung zu finden. Viele
mussten eine geringer qualifizierte und bezahlte oder weit entfernte Stelle
annehmen, blieben langfristig arbeitslos, oder wurden in den
(Vor-)Ruhestand geschickt, d.h. ein Teil der Mittelschicht erlebte einen
sozialen Abstieg. In Westdeutschland waren insbesondere die Branchen von der
Deindustrialisierung betroffen, für die 20 Jahre zuvor die 'Gastarbeiter'
importiert wurden (Stahl, Textil, Elektro). Noch heftiger war die
Deindustrialisierung in den neuen Bundesländern nach der Wiedervereinigung.
Die
Einkommensgegensätze wurden durch den Wandel von der keynesianischen zur
neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik (Sozialabbau, Steuerreformen,
Deregulierung, Privatisierung, Schwächung der Gewerkschaften) ab 1980 weiter
verstärkt.
Nachdem von 1950 bis
1980 hohe Wachstumsraten, die steigenden Löhne und Gehälter und eine relativ
gleichmäßige Einkommensverteilung dafür gesorgt hatten, dass es allen
Bevölkerungsgruppen immer besser ging, gab es ab 1980 bei geringen
Wachstumsraten und wachsenden Einkommensgegensätzen nun Gewinner und Verlierer
der wirtschaftlichen Entwicklung.
Demografischer Wandel
Die seit Jahrzehnten
sinkenden Geburtenraten führen zu einer ständig sinkenden Erwerbsbevölkerung:
es wechseln ständig mehr Personen in den Ruhestand als Berufsanfänger neu
hinzukommen. Die formale Qualifikation der ausscheidenden ist dabei weitaus
niedriger als der Einsteiger. Das Qualifikationsniveau der Jugendlichen, die
ins Berufsleben einsteigen, nimmt kontinuierlich zu - z.B. Schulabschlüsse in
Deutschland pro Altersjahrgang
1950 |
1970 |
2017 |
|
Abitur |
5% |
25% |
50% |
Mittlerer Abschluss |
35% |
35% |
35% |
Hauptschulabschluss |
60% |
40% |
15% |
Entsprechend steigt kontinuierlich der Anteil von Akademikern und Fachkräften an der Erwerbsbe
Das
Qualifikationsniveau steigt sowohl auf der Nachfrageseite (High-Tech-Industrie,
wissensintensive Dienstleistungen) wie Angebotsseite (Abiturienten, Hochschulabsolventen)
des Arbeitsmarkts.
Nachdem durch die
Deindustrialisierung der 1980er und 1990er Jahre viele ältere Facharbeiter mit
mittlerer Qualifikation ihre Arbeit verloren und in den (Vor-) Ruhestand geschickt
wurden, leiden heute viele Branchen und Ausbildungsberufe (Gesundheitswesen,
Bauhandwerk, Metallberufe) unter einem Mangel an Bewerbern, da von den
schrumpfenden Jahrgängen der Jugendlichen immer mehr sich für ein Studium
entscheiden und keine Ausbildung machen.
Die Nachfrage nach
gering qualifizierten Arbeitskräften besteht hauptsächlich im wachsenden
Dienstleistungsbereich: soziale Dienste, Gastronomie, Erntehelfer, LKW-Fahrer,
Logistikzentren, Reinigung, Sicherheitsdienste, Kurierdienste. Diese Arbeitsplätze
können nicht ohne Immigration oder ausländische Saisonarbeit besetzt werden.
Der Anteil der Beschäftigten mit Migrationshintergrund steigt in fast allen
Berufen, wobei er bei den gering qualifizierten und unbeliebten Tätigkeiten
(Nachtarbeit, geringes Prestige und Bezahlung) überproportional hoch ist.
Das
Qualifikationsniveau der Frauen nimmt weitaus stärker zu als das der Männer:
Frauen stellten nur eine kleine Minderheit und den Abiturienten / Studenten in
den fünfziger Jahren, heute liegt ihr Anteil bei über 50%. Die Mehrheit der
Frauen ging damals ohne jegliche Berufsausbildung in die Ehe, heute ist es nur
noch eine kleine Minderheit. Die Zahl der Frauen, die lebenslang ausschließlich
als Hausfrauen tätig sind, geht stark zurück. Der Anteil der Frauen steigt in
fast allen Berufen.
Fazit: der Anteil der
Akademiker, Migranten und Frauen an der Erwerbsbevölkerung steigt, der Anteil
der nichtakademischen deutschen Männer sinkt.
Kultureller Wandel
Die wachsende
gebildete Mittel- und Oberschicht wird kulturell heterogener: ein wachsender
Teil ist geprägt von einer ‚postmaterialistischen‘ Wertorientierung:
Gleichberechtigung der Frauen, Lebensqualität, Schutz der Umwelt, Gesundheit,
Selbstverwirklichung, soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte, Toleranz gegenüber
Minderheiten, Respekt vor fremden Kulturen, Offenheit gegenüber Innovationen
gewinnen an Bedeutung. Die sowohl in bürgerlichen wie proletarischen Milieus
geltenden traditionellen Werte - wie z. B. materieller Wohlstand, Respekt vor
(männlicher) Autorität und Vaterland, Disziplin, Ruhe und Ordnung, Sicherheit,
Festhalten an Traditionen - verlieren relativ[3].
Dieser in den 60er Jahren einsetzende Wertewandel wird der Tatsache
zugeschrieben, dass für Menschen, die in materiell sicheren Verhältnissen
aufwachsen, die Befriedigung nichtmaterieller Bedürfnisse relativ gesehen
wichtiger wird. Ende der 1960er Jahre wurde die erste Generation volljährig,
auf die dies zutraf – allerdings zunächst nur auf die Angehörigen der
privilegierten Schichten, die sich ein Studium leisten konnten. Daher erblickte
der Wertewandel als „Studentenbewegung“ das Licht der Welt, mäßigte und
verbreitete sich dann mit der Zeit dadurch, dass eine Studentengeneration nach
der anderen ins Berufsleben hineinalterte.
Dieser kulturelle
Wandel findet nicht statt in den schrumpfenden und teilweise verarmenden
Milieus in den Arbeiterstadtteilen sowie dem ländlichen Raum. Ökonomische
Sorgen lassen hier nichtmaterielle Bedürfnisse als Luxus erscheinen.
Am unteren Ende der
sozialen Hierarchie wird der Kulturwandel durch einen steigenden Anteil von
Migranten aus unterschiedlichen Kulturen der Welt geprägt.
Wandel der Parteienlandschaft
Von den 1950 bis 1980 war in Deutschland wie in den meisten europäischen Ländern die Parteienlandschaft durch das Duopol von Christ- und Sozialdemokraten geprägt. Die beiden Lager vertraten offiziell nach Image und Rhetorik die materiellen Interessen des Bürgertums bzw. der Arbeiter. Der Anteil der SPD-Wählern unter den Arbeitern war zwar etwas höher als im Durchschnitt, aber weniger deutlich als es dem Image der Partei entsprach. Das Wahlverhalten wurde, wie die Wahlforschung ermittelte, tatsächlich stärker von der kirchlichen Bindung (katholisch, protestantisch) geprägt als von der Schichtzugehörigkeit. In der politischen Praxis gab es zwischen den beiden Lagern nur einen graduellen Unterschied beim Engagement im Aufbau des Wohlfahrtsstaats im Rahmen der allgemein akzeptierten keynesianischen (oder ordoliberalen) Wirtschaftspolitik. Dazwischen gab es ohne klares Profil noch die Freidemokraten. Kulturell waren alle Parteien und ihre Wählerschaften bis dahin gleichermaßen durch die oben beschriebenen materialistisch-autoritären Wertorientierungen geprägt, die sowohl in dem bürgerlichen wie dem proletarischen Milieu zu finden waren.
1968 findet sich die
postmaterialistische Protestjugend in dieser Parteienlandschaft nicht wieder
und definiert sich zunächst als außerparlamentarische Opposition. Ende der
1970er Jahre entstehen die Grünen als Repräsentant des
postmaterialistischen Mittelstands und sehen sich als Vertreter der sozialen
Bewegungen (Umwelt, Frauen, Frieden, Antirassismus, Bürgerrechte, Dritte Welt),
also der Themen, die von den etablierten Parteien bestenfalls als nebensächlich
betrachtet werden.
Ab 1980 reformieren
die Christ- und Freidemokraten und später ab 2000 auch die Sozialdemokraten und
Grünen ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik: Übergang von der keynesianischen
zur neoliberalen Wirtschaftspolitik (Deregulierung, Sozialabbau, Sparpolitik,
Privatisierung, Agenda 2010), was zur Antiglobalisierungsbewegung und 2007 zur
Gründung der Linkspartei führt, die die Rückkehr zur alten keynesianischen
Wirtschaftspolitik fordert.
Während Christ-, Frei-
und Sozialdemokraten sich wirtschaftspolitisch nach 1980 nach rechts wenden,
stellen sie fest, dass ein Teil ihrer Wähler und Mitglieder, speziell aus dem
städtischen, gebildeten Milieu, dem postmaterialistischen Wertewandel folgen.
Als Konsequenz 'modernisieren' sie vorsichtig ihre Programmatik und ihr Erscheinungsbild
und greifen Themen wie Umwelt, Frauenpolitik, Antidiskriminierung, Immigration
auf (Kohl->Merkel).
Ein großer Teil der
unteren Mittel- und Arbeiterschichten und Bewohner des ländlichen Raums gehört
zu dem oben beschriebenen konservativ-autoritären Milieu. Anders als in der
gebildeten Mittel- und Oberschicht hat bei ihnen kein Wertewandel
stattgefunden. Die Wähler dieses Milieus fühlen sich von den bestehenden
Parteien immer weniger repräsentiert. Die bestehenden Parteien sind in ihren
Augen zu tolerant, zu menschenfreundlich, zu umweltfreundlich, zu weltoffen, zu
gebildet. Ihre autoritären, ausländerfeindlichen, frauenfeindlichen,
nationalistischen, intoleranten, aggressiv-männlichen Ansichten und
Einstellungen finden die Wähler dieses Milieus in den bestehenden 'modernen'
Parteien heute nicht mehr genügend wieder - anders als noch zu Zeiten von
Alfred Dregger, Franz Josef Strauß, Heinrich Lummer ("der Mann fürs
Grobe"), Roland Koch ("Kinder statt Inder"), Helmut Kohl,
Helmut Schmidt, Holger ("Dachlatten") Börner und Gerhard Schröder
(Frauenpolitik ist dummes "Gedöns"). Vor jeder Wahl kamen früher von
Spitzenpolitikern einige rechtspopulistische Sprüche, um die "Hoheit über
die Stammtische" zu erhalten und sich Stimmen aus dem BILD-Zeitung
lesenden Teil der Bevölkerung zu sichern. Angesichts der Liberalisierung der
Volksparteien wird nun ein Teil des konservativ-autoritären Milieus zu
Nichtwählern oder Wählern von rechtspopulistischen Parteien (AfD ab 2013). Die
Wahlerfolge der Rechtspopulisten stellen also keine Rechtsentwicklung der
Gesellschaft dar, sondern sind im Gegenteil zum Teil eine Folge der kulturellen
Liberalisierung der Gesellschaft und der Volksparteien.
Der oben beschriebene
Wandel der Beschäftigungsstruktur wird von den Rechtspopulisten verbal
bekämpft: steigender Akademikeranteil ("abgehobene Eliten"),
steigender Ausländeranteil ("Ausländer raus"), steigender
Frauenanteil ("Genderwahnsinn"). Rechtspopulisten werden
überdurchschnittlich von nichtakademischen deutschen Männern gewählt. Hinter
dem Hass auf die moderne, liberale, pluralistische, gebildete Gesellschaft
verbirgt sich vermutlich auch der Frust der nichtakademischen deutschen Männer
über den Verlust ihrer Privilegien: die Zeiten, in denen sie über 80% der
Erwerbstätigen stellten, im Betrieb das Sagen hatten, sich im Haushalt von
ihren Frauen bedienen ließen, während nur einige wenige 'Fremdarbeiter' in
Baracken am Rande der Fabrikgelände wohnten, werden nicht mehr zurückkommen.
Wahlanalysen zeigen, dass die Wähler der Rechtspopulisten nicht zu den ärmsten
der Gesellschaft gehören. Rechtspopulisten sind nicht die ökonomischen, sondern
die kulturellen Modernisierungsverlierer.
Das gering
qualifizierte Dienstleistungsproletariat besteht zu einem wachsenden Teil aus
Migranten und wählt überhaupt nicht, weil viele Migranten mangels
Staatsbürgerschaft nicht wählen können und keine Partei ihre Interessen
vertritt.
Ausblick
Welche Trends
bezüglich des sozialen Wandels und des Wahlverhaltens lassen sich vorhersagen?
Der Wandel der Sozialstruktur setzt sich fort: Zuwachs an hoch
qualifizierten und bezahlten Angestellten (steigende Akademikerquote), Rückgang
an Industrie- und Büroarbeitern, sowie Gewerbetreibende im ländlichen Raum,
Zuwachs an gering qualifizierten und bezahlten Beschäftigten im
Dienstleistungssektor. Die räumliche Konzentration der Bevölkerung setzt sich
fort: Wachstum der Beschäftigung in den Dienstleistungsmetropolen mit den
Zukunftsbranchen, Schrumpfung der Beschäftigung in den Industriestädten und im
ländlichen Raum.
Durch diesen Wandel
der Sozialstruktur, durch das steigende Bildungsniveau, durch die Verstädterung
und durch den wachsenden Wohlstand der Mittel- und Oberschichten wächst das
postmaterialistische Wählerpotential, während das konservativ-autoritäre
Wählerpotential aus denselben Gründen schrumpft. Durch den Geburtenrückgang der
deutschen Bevölkerung werden viele ungelernte und unbeliebte Tätigkeiten zunehmend
von Immigranten ausgeübt. Auch dadurch schrumpft das deutsche
konservativ-autoritäre Wählerpotential. Während jahrzehntelang die deutsche
konservativ-autoritäre Kultur als Standard der Nation galt – trotz ein paar
verrückter Studenten und Gastarbeiter -, wird sie jetzt von 'liberalen
städtischen Eliten' und fremdartigen Immigranten in die Zange genommen.
Die beiden
Volksparteien stehen vor dem Problem, dass ihre gebildete, städtische
Wählerschaft sich kulturell in Richtung Postmaterialismus verändert, ihre
bildungsfernere Wählerschaft in den Industrierevieren und auf dem Land bislang
jedoch nicht. Wenn die Volksparteien sich 'modernisieren', verlieren sie Wähler
an die rechtspopulistische Konkurrenz, wenn nicht, verlieren sie Wähler an die
liberale, grüne oder linke Konkurrenz. Die Volksparteien befinden sich in einem
Dilemma: sie verlieren Stimmen, egal was sie tun und können so ihrer
Schrumpfung nicht entgehen. Auch die Linkspartei ist in diesem Dilemma: Sarah
Wagenknecht möchte mit ihrer Bewegung ‚Aufstehen‘ den Rechtspopulisten die
konservativen Modernisierungsverlierer abwerben. Wenn dies zur Identität der
Partei würde, dürfte sie ihre linken akademischen Wähler verlieren.
Die zunehmende
Heterogenität der Gesellschaft - sowohl ökonomisch wie kulturell - erzeugt eine
zunehmend heterogene Parteienlandschaft. Regierungen sind nur noch als
Koalitionen verschiedener Parteien möglich.
Europa
Ein Blick in das
Europaparlament zeigt, dass die Parteienlandschaft in den anderen west- und nordeuropäischen
Ländern ähnlich aussieht wie in Deutschland. In Osteuropa sind die grünen und
linksliberalen Parteien dagegen schwächer und die rechtspopulistischen Parteien
stärker als in West- und Nordeuropa. Allerdings ist auch die Sozialstruktur dort
anders: der Dienstleistungssektor und die gebildeten Mittel- und Oberschichten
sind kleiner, die traditionelle Arbeiterschicht größer - immerhin ist Osteuropa
Ziel der Auslagerung der arbeitsintensiven Industriebranchen aus den
Hochlohnländern in West- und Nordeuropa. Außerdem sind sie Herkunftsländer der
Migranten, die in West- und Nordeuropa die unbeliebten Tätigkeiten im
Niedriglohnsektor verrichten. Südeuropa liegt hinsichtlich Sozialstruktur und
Parteienlandschaft irgendwo zwischen West und Ost.
Allerdings findet in
diesen Ländern derselbe demografische Wandel statt wie im Westen: die
Geburtenraten sind teilweise niedriger als im Westen, das Bildungsniveau der
jungen Generation gleicht sich dem des Westens an, die Löhne steigen. Man darf
gespannt sein, ob Ost- und Südeuropa zeitlich versetzt dieselbe Entwicklung
durchläuft wie West- und Nordeuropa, oder ob es für immer der Billiglohnsektor
für den Westen bleiben wird.
[1] In den meisten Konsumgüterbranchen
ist die Massenproduktion zu einem großen Teil in Niedriglohnländer ausgelagert:
Bekleidung, Lederwaren, Elektrogeräte, Haushaltswaren, Möbel, Fahrräder,
Spielwaren, Schmuck, Uhren, Sport- und Freizeitartikel, Heimwerkerbedarf,
Schreibwaren. In der Automobilindustrie wandert die Produktion von Kleinwagen,
Kfz-Teilen, Reifen in Niedriglohnländer ab. In einigen Konsumgüterbranchen
befindet sich der überwiegende Teil der Massenproduktion noch in den
Hochlohnländern: Lebensmittel, Drogerieartikel, Medikamente (außer Generika),
Bücher, Zeitschriften, Baumaterialien, Bauhandwerk.
[2] Die London School of Economics hat
die Veränderung der Qualifikationsstruktur von 16 europäischen Ländern zwischen
1993 und 2010 erforscht: in allen sank der Anteil der Beschäftigten mit
mittlerer Qualifikation, während der Anteil der hoch qualifizierten und der
niedrig qualifizierten Arbeitnehmer zunahm. Quelle: Alternatives Economiques –
Hors Série, Feb 2018: ‚Les dangereuses mutations du travail et de l’emploi‘, S.
28
[3] vgl. zahlreiche SINUS-Jugendstudien
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