Freitag, 1. Oktober 2021

Wandel der Parteienlandschaft Europas

 

In allen Ländern Europas findet ein Wandel der Parteienlandschaft statt: die Volksparteien schrumpfen, rechts, links und in der Mitte entstehen neue Parteien. Streitigkeiten werden aggressiver, die Regierungsbildung wird immer schwieriger, Regierungen werden instabiler. Woran liegt’s?

Es lohnt sich, die Veränderungen der letzten 70 Jahre am Beispiel Deutschland Revue passieren zu lassen: die Veränderung der Wirtschaftsstruktur seit den 1950er Jahren, darauf basierend die Veränderung der Sozialstruktur. Dazu die Veränderung der Bevölkerungsstruktur durch sinkende Geburtenraten, steigendes Bildungsniveau, Migration. Darauf basierend der kulturelle Wandel seit den fünfziger Jahren. Die Bevölkerung, deren Interessen die politischen Parteien in den Parlamenten zu vertreten haben, sieht heute anders aus als in den 1950er Jahren. Also ist zu erwarten, dass auch die politischen Parteien und die Parteienlandschaft heute anders aussehen als in der Vergangenheit.

Veränderung der Wirtschaftsstruktur

Die Produktionsstruktur der Industrie verändert sich: die Produktion von Roh- und Grundstoffen (Bergbau, Stahl, Grundstoffchemie) wird in rohstoffreiche Länder mit niedrigen Löhnen, Sozial- und Umweltstandards verlagert. Die Produktion von Massenkonsumgütern wird automatisiert, d.h. einfache, repetitive Arbeit wird durch Maschinen ersetzt. Wenn das nicht möglich ist (z.B. Herstellung von Bekleidung, Elektrogeräten, Haushaltswaren), wird sie in Niedriglohnländer ausgelagert[1].

Was wächst, ist die forschungsintensive High-Tech-Industrie (z. B. Maschinenbau, Spezialchemie, Mikroelektronik, Informationstechnologien, Mess- und Regeltechnik, Energietechnik, Luft- und Raumfahrttechnik, neue Werkstoffe, Pharmazeutika, Biotechnologie, Medizintechnik etc.). Diese Branchen stehen international mehr in einem technologischen Wettbewerb als in einem Preiswettbewerb, so dass die hohen Löhne Deutschlands nicht stören, dafür das hohe Qualifikationsniveau des Landes einen Standortvorteil darstellt. Die Mechanisierung und Digitalisierung aller Branchen erzeugen eine wachsende Nachfrage nach Maschinen und Elektronik. Durch die Globalisierung und das Wachstum der Weltwirtschaft wächst weltweit die Nachfrage nach High-Tech-Produkten, die vorwiegend in Hochlohnländern hergestellt werden.

Eine andere Wachstumsbranche ist die Luxuskonsumgüterindustrie (z. B. Autos, Uhren, Kosmetik, Mode, Möbel etc. des „Premium Segments“, bei dem hohe Preise zum Geschäftsmodell gehören und somit die hohen Löhne keine Rolle spielen). Durch das weltweite Wirtschaftswachstum zusammen mit einer zunehmend ungleichen Einkommensverteilung wächst überall die Zahl der Reichen und Superreichen und damit die Nachfrage nach Luxuskonsumgütern.

Im Dienstleistungsbereich werden ebenfalls Routinetätigkeiten mechanisiert (Computer ersetzen manuelle, repetitive Büroarbeit) oder an den Kunden übertragen (Online-Banking statt Bankfilialen, Online-Handel statt Einzelhandel). Wenn sie nicht mechanisiert, aber online ausgeübt werden können, werden sie gelegentlich auch in Niedriglohnländer ausgelagert (Buchhaltung, IT-Services, Call Center). Bei den meisten Dienstleistungen ist jedoch eine Mechanisierung oder Verlagerung ins Ausland unmöglich (z. B. soziale Dienste, Reinigung).

Was wächst, sind die wissensintensiven Dienstleistungsunternehmen: Softwareentwicklung und -beratung, Internet-Dienstleistungen, Betrieb von Rechenzentren, Telekommunikation, Unternehmensberatung, Ingenieurbüros, Werbung und Design, Bildung, Medien, Kultur, Finanzindustrie, Rechtsberatung, Gesundheitswesen.

Bei den Industrieunternehmen, deren Produktion in Niedriglohnländer abwandert, bleiben meist Forschung und Entwicklung, Design, IT, Buchhaltung, Vertrieb und Firmenleitung in den Hochlohnländern - also praktisch der 'Dienstleistungsanteil' der Industriebetriebe (Beispiel Apple, Ikea, Adidas). Auch in allen anderen Industriebetrieben wächst der Anteil der 'White Collar Worker' auf Kosten der 'Blue Collar Worker'.

Es wachsen aber auch Dienstleistungssektoren mit einfachen, repetitiven Tätigkeiten, die nicht automatisiert oder in Niedriglohnländer ausgelagert werden können:

  • bei steigendem Wohlstand der Haushalte steigt der Anteil von Dienstleistungen an der Konsumnachfrage: es werden Dienstleistungen gekauft, die früher in Eigenarbeit im Haushalt erledigt wurden: Reinigung, Alten-/Krankenpflege, Kinderbetreuung, Nachhilfe, Freizeit, Umzug, Reparaturen, Gastronomie, Gartenpflege, Kosmetik etc. Aber auch der Konsum von 'Luxusdienstleistungen' (Tourismus, Reit-/Segelsport, Gesundheit, Wellness, Kultur, Anlageberatung) nimmt zu.
  • viele Industriegüter werden durch Mechanisierung oder Auslagerung der Produktion in Niedriglohnländer und durch den Vertrieb über Discounter oder Online-Vertrieb relativ zum Einkommen immer billiger und lassen einen immer größeren Anteil des Einkommens übrig für Dienstleistungen. (Für den Erwerb eines Staubsaugers z.B. arbeitet ein Arbeitnehmer heute im Schnitt nur einen Bruchteil an Arbeitsstunden im Vergleich zu den 1960er Jahren).
  • durch die Alterung der Gesellschaft wächst die Nachfrage nach Pflege- und medizinischen Dienstleistungen.
  • durch die Globalisierung der Produktion und dem Wachstum des Tourismus wird Transport und Logistik (Straße, Bahn, Luft, Wasser) zu einem Wachstumssektor.
  • der Online-Handel erzeugt neue Hilfstätigkeiten bei Paket- und Kurierdiensten, Logistikzentren, Call-Centern, oder als digitale Crowd Worker.
  • weitere Wachstumsbranchen mit vorwiegend niedrig qualifiziertem Personal sind Gebäudemanagement von Wohn-, Büro- und Industriebauten (Reinigung, Sicherheit, Instandhaltung, Catering), sowie Sammlung und Wiederverwertung von Wertstoffen (Recycling).

In der Landwirtschaft findet der Übergang von der bäuerlichen zur industriellen Landwirtschaft statt, der in Nordamerika z.B. schon viel weiter fortgeschritten ist, d.h. es werden zahlreiche Arbeitsplätze durch Zusammenlegung von Betrieben und Mechanisierung vernichtet.

 

Es findet also ein ständiger Wandel der Produktions- und Beschäftigungsstruktur statt: neue Arbeitsplätze entstehen in den Wachstumsbranchen, Arbeitsplätze verschwinden in den Schrumpfbranchen:

Wachstumsbranchen

  Schrumpfbranchen

Industrie

 

High-Tech
Luxuskonsum

  Roh- und Grundstoffe
  Massenkonsum

Dienstleistungen  

 

 

wissensintensive D.
Luxuskonsum
Logistik
einfache haushaltsnahe D.

  manuelle Büroarbeit
  stationärer Einzelhandel

 

 

Landwirtschaft

 

 

  gesamte Branche

 

Insgesamt verschwanden in der Industrie mehr Arbeitsplätze in den Schrumpfbranchen als neue in den Wachstumsbranchen entstanden. Besonders stark war der Abbau von Industriearbeitsplätzen nach der neoliberalen Wende in den 1980er Jahren und nach der deutschen Wiedervereinigung in den 1990er Jahren. Im Dienstleistungssektor entstanden mehr neue Arbeitsplätze als alte verschwanden. In der Landwirtschaft geht die Beschäftigung kontinuierlich bergab:

 

Erwerbstätige im Inland nach Wirtschaftssektoren in Prozent (%):

Landwirtschaft

Industrie

Dienstleistungen

                                    1950

24,6

42,9

32,5

                                    1960

13,7

47,9

38,3

                                    1970

8,4

46,5

45,1

                                    1980

5,1

41,1

53,8

                                    1990

3,5

36,6

59,9

                                    2000

1,9

28,4

69,7

                                    2010

1,6

24,4

74,0

                                    2020

1,3

24,0

74,7

                                             Quelle: DStatis Statistisches Bundesamt 2021

 

Der Wandel der Produktions- und Beschäftigungsstruktur ist in Deutschland allerdings geografisch ungleich verteilt: in einigen Städten und Regionen verschwinden mehr Arbeitsplätze als neue entstehen - z.B. Ruhrgebiet, Saarland, neue Bundesländer, einige Mittelstädte wie Wilhelmshaven, Pirmasens, Salzgitter, Lübeck sowie im ländlichen Raum (Ausnahme touristisch attraktive Regionen wie Alpenvorland, Bodenseeregion oder Schwarzwald). In anderen Städten und Regionen entstehen mehr neue Arbeitsplätze als alte verschwinden - z.B. in den Ballungsgebieten Rhein-Main, Rhein-Neckar, Köln-Düsseldorf, Stuttgart, München, Hamburg, Berlin, Dresden sowie in einigen Mittelstädten wie Freiburg, Konstanz, Münster, Regensburg, Oldenburg.

Woran liegt’s? Die wissensintensiven High-Tech-Branchen konzentrieren sich auf Groß- und Universitätsstädte mit hoher Freizeitqualität, wo die gesuchten Fachkräfte entweder schon vorhanden sind oder wo sie gerne hinziehen. In den Klein- und Industriestädten und im ländlichen Raum gibt es die in den High-Tech-Branchen benötigten Fachkräfte meist nicht und nur wenige sind bereit, dort hinzuziehen. Vielmehr wandert von dort ein Teil der jungen Generation ab – zunächst wegen Ausbildung und Studium, dann wegen der zukunftsträchtigen Arbeitsplätze in den Dienstleistungsmetropolen. Manche Firmen verlegen sogar aus dem Grund Verwaltung, Forschung, Entwicklung und Vertrieb in die Großstädte und lassen nur die Produktion in der Provinz. Als Folge dominieren in den Klein- und Industriestädten und im ländlichen Raum eher die schrumpfenden Branchen.

Die steigende Bevölkerungszahl in den Ballungszentren erzeugt als 'Zweitrundeneffekt' eine steigende Nachfrage nach lokalen Dienstleistungen im Bereich Einzelhandel, Bildung, Gesundheit, Freizeit, Rechtsberatung, sowie nach gering qualifizierten Tätigkeiten im Bereich Transport, Gastronomie, Pflege, Reinigung, etc. In den Klein- und Industriestädten und im ländlichen Raum mit schrumpfender Bevölkerung gibt es den Zweitrundeneffekt mit umgekehrtem Vorzeichen: Einzelhandel, Bildungs-, Gesundheits-, Freizeiteinrichtungen etc. verschwinden, was wiederum den Wunsch nach Abwanderung befördert.

Außerhalb der Ballungsgebiete und Großstädte findet ein weiterer wirtschaftsgeografischer Wandel statt: die schrumpfenden lokalen Dienstleistungen (Einzelhandel, Handwerk, Schulen, Gesundheitswesen, Freizeit) konzentrieren sich auf die 'Mittelzentren' (Kleinstädte mit mindestens 10 000 Einwohnern), während sie auf dem Lande ganz verschwinden. Die meisten Dörfer haben kaum noch Arbeitsplätze (außerhalb der hochtechnisierten Landwirtschaft), sondern dienen nur noch als Wohnort. Für alle anderen Zwecke des täglichen Lebens sowie für die Arbeit müssen größere Entfernungen zurückgelegt werden.

 

 Veränderung der Sozialstruktur

Der Wandel der Wirtschaftsstruktur erzeugt einen Wandel der Sozialstruktur: Zuwachs an hoch qualifizierten und bezahlten Angestellten, Rückgang an Industrie- und Büroarbeitern mit mittlerer und geringer Qualifikation, Zuwachs an gering qualifizierten und bezahlten Beschäftigten im haushaltsnahen und sozialen Dienstleistungssektor, sowie Rückgang an Beschäftigten in der Landwirtschaft. Der Wandel der Sozialstruktur verstärkt die Einkommensgegensätze: es gibt mehr Beschäftigte mit hohen, weniger mit mittleren und mehr mit niedrigen Einkommen[2]. Besonders problematisch waren die Stellenverluste in der industriellen Mittelschicht in den 1980er und 1990er Jahren: vielen freigesetzten Arbeitnehmern gelang es nicht, eine gleichwertige oder gar höherwertige Beschäftigung zu finden. Viele mussten eine geringer qualifizierte und bezahlte oder weit entfernte Stelle annehmen, blieben langfristig arbeitslos, oder wurden in den (Vor-)Ruhestand geschickt, d.h. ein Teil der Mittelschicht erlebte einen sozialen Abstieg. In Westdeutschland waren insbesondere die Branchen von der Deindustrialisierung betroffen, für die 20 Jahre zuvor die 'Gastarbeiter' importiert wurden (Stahl, Textil, Elektro). Noch heftiger war die Deindustrialisierung in den neuen Bundesländern nach der Wiedervereinigung.

Die Einkommensgegensätze wurden durch den Wandel von der keynesianischen zur neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik (Sozialabbau, Steuerreformen, Deregulierung, Privatisierung, Schwächung der Gewerkschaften) ab 1980 weiter verstärkt.

Nachdem von 1950 bis 1980 hohe Wachstumsraten, die steigenden Löhne und Gehälter und eine relativ gleichmäßige Einkommensverteilung dafür gesorgt hatten, dass es allen Bevölkerungsgruppen immer besser ging, gab es ab 1980 bei geringen Wachstumsraten und wachsenden Einkommensgegensätzen nun Gewinner und Verlierer der wirtschaftlichen Entwicklung.

 

Demografischer Wandel

Die seit Jahrzehnten sinkenden Geburtenraten führen zu einer ständig sinkenden Erwerbsbevölkerung: es wechseln ständig mehr Personen in den Ruhestand als Berufsanfänger neu hinzukommen. Die formale Qualifikation der ausscheidenden ist dabei weitaus niedriger als der Einsteiger. Das Qualifikationsniveau der Jugendlichen, die ins Berufsleben einsteigen, nimmt kontinuierlich zu - z.B. Schulabschlüsse in Deutschland pro Altersjahrgang

1950

  1970

 2017

Abitur

  5%

   25%

  50%

Mittlerer Abschluss

35%

   35%

  35%

Hauptschulabschluss

60%

   40%

  15%

Entsprechend steigt kontinuierlich der Anteil von Akademikern und Fachkräften an der Erwerbsbe   

Das Qualifikationsniveau steigt sowohl auf der Nachfrageseite (High-Tech-Industrie, wissensintensive Dienstleistungen) wie Angebotsseite (Abiturienten, Hochschulabsolventen) des Arbeitsmarkts.

Nachdem durch die Deindustrialisierung der 1980er und 1990er Jahre viele ältere Facharbeiter mit mittlerer Qualifikation ihre Arbeit verloren und in den (Vor-) Ruhestand geschickt wurden, leiden heute viele Branchen und Ausbildungsberufe (Gesundheitswesen, Bauhandwerk, Metallberufe) unter einem Mangel an Bewerbern, da von den schrumpfenden Jahrgängen der Jugendlichen immer mehr sich für ein Studium entscheiden und keine Ausbildung machen. 

Die Nachfrage nach gering qualifizierten Arbeitskräften besteht hauptsächlich im wachsenden Dienstleistungsbereich: soziale Dienste, Gastronomie, Erntehelfer, LKW-Fahrer, Logistikzentren, Reinigung, Sicherheitsdienste, Kurierdienste. Diese Arbeitsplätze können nicht ohne Immigration oder ausländische Saisonarbeit besetzt werden. Der Anteil der Beschäftigten mit Migrationshintergrund steigt in fast allen Berufen, wobei er bei den gering qualifizierten und unbeliebten Tätigkeiten (Nachtarbeit, geringes Prestige und Bezahlung) überproportional hoch ist.

Das Qualifikationsniveau der Frauen nimmt weitaus stärker zu als das der Männer: Frauen stellten nur eine kleine Minderheit und den Abiturienten / Studenten in den fünfziger Jahren, heute liegt ihr Anteil bei über 50%. Die Mehrheit der Frauen ging damals ohne jegliche Berufsausbildung in die Ehe, heute ist es nur noch eine kleine Minderheit. Die Zahl der Frauen, die lebenslang ausschließlich als Hausfrauen tätig sind, geht stark zurück. Der Anteil der Frauen steigt in fast allen Berufen.

Fazit: der Anteil der Akademiker, Migranten und Frauen an der Erwerbsbevölkerung steigt, der Anteil der nichtakademischen deutschen Männer sinkt.

 

Kultureller Wandel

Die wachsende gebildete Mittel- und Oberschicht wird kulturell heterogener: ein wachsender Teil ist geprägt von einer ‚postmaterialistischen‘ Wertorientierung: Gleichberechtigung der Frauen, Lebensqualität, Schutz der Umwelt, Gesundheit, Selbstverwirklichung, soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte, Toleranz gegenüber Minderheiten, Respekt vor fremden Kulturen, Offenheit gegenüber Innovationen gewinnen an Bedeutung. Die sowohl in bürgerlichen wie proletarischen Milieus geltenden traditionellen Werte - wie z. B. materieller Wohlstand, Respekt vor (männlicher) Autorität und Vaterland, Disziplin, Ruhe und Ordnung, Sicherheit, Festhalten an Traditionen - verlieren relativ[3]. Dieser in den 60er Jahren einsetzende Wertewandel wird der Tatsache zugeschrieben, dass für Menschen, die in materiell sicheren Verhältnissen aufwachsen, die Befriedigung nichtmaterieller Bedürfnisse relativ gesehen wichtiger wird. Ende der 1960er Jahre wurde die erste Generation volljährig, auf die dies zutraf – allerdings zunächst nur auf die Angehörigen der privilegierten Schichten, die sich ein Studium leisten konnten. Daher erblickte der Wertewandel als „Studentenbewegung“ das Licht der Welt, mäßigte und verbreitete sich dann mit der Zeit dadurch, dass eine Studentengeneration nach der anderen ins Berufsleben hineinalterte.

Dieser kulturelle Wandel findet nicht statt in den schrumpfenden und teilweise verarmenden Milieus in den Arbeiterstadtteilen sowie dem ländlichen Raum. Ökonomische Sorgen lassen hier nichtmaterielle Bedürfnisse als Luxus erscheinen.

Am unteren Ende der sozialen Hierarchie wird der Kulturwandel durch einen steigenden Anteil von Migranten aus unterschiedlichen Kulturen der Welt geprägt.

 

Wandel der Parteienlandschaft

Von den 1950 bis 1980 war in Deutschland wie in den meisten europäischen Ländern die Parteienlandschaft durch das Duopol von Christ- und Sozialdemokraten geprägt. Die beiden Lager vertraten offiziell nach Image und Rhetorik die materiellen Interessen des Bürgertums bzw. der Arbeiter. Der Anteil der SPD-Wählern unter den Arbeitern war zwar etwas höher als im Durchschnitt, aber weniger deutlich als es dem Image der Partei entsprach. Das Wahlverhalten wurde, wie die Wahlforschung ermittelte, tatsächlich stärker von der kirchlichen Bindung (katholisch, protestantisch) geprägt als von der Schichtzugehörigkeit. In der politischen Praxis gab es zwischen den beiden Lagern nur einen graduellen Unterschied beim Engagement im Aufbau des Wohlfahrtsstaats im Rahmen der allgemein akzeptierten keynesianischen (oder ordoliberalen) Wirtschaftspolitik. Dazwischen gab es ohne klares Profil noch die Freidemokraten. Kulturell waren alle Parteien und ihre Wählerschaften bis dahin gleichermaßen durch die oben beschriebenen materialistisch-autoritären Wertorientierungen geprägt, die sowohl in dem bürgerlichen wie dem proletarischen Milieu zu finden waren.

1968 findet sich die postmaterialistische Protestjugend in dieser Parteienlandschaft nicht wieder und definiert sich zunächst als außerparlamentarische Opposition. Ende der 1970er Jahre entstehen die Grünen als Repräsentant des postmaterialistischen Mittelstands und sehen sich als Vertreter der sozialen Bewegungen (Umwelt, Frauen, Frieden, Antirassismus, Bürgerrechte, Dritte Welt), also der Themen, die von den etablierten Parteien bestenfalls als nebensächlich betrachtet werden.

Ab 1980 reformieren die Christ- und Freidemokraten und später ab 2000 auch die Sozialdemokraten und Grünen ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik: Übergang von der keynesianischen zur neoliberalen Wirtschaftspolitik (Deregulierung, Sozialabbau, Sparpolitik, Privatisierung, Agenda 2010), was zur Antiglobalisierungsbewegung und 2007 zur Gründung der Linkspartei führt, die die Rückkehr zur alten keynesianischen Wirtschaftspolitik fordert.

Während Christ-, Frei- und Sozialdemokraten sich wirtschaftspolitisch nach 1980 nach rechts wenden, stellen sie fest, dass ein Teil ihrer Wähler und Mitglieder, speziell aus dem städtischen, gebildeten Milieu, dem postmaterialistischen Wertewandel folgen. Als Konsequenz 'modernisieren' sie vorsichtig ihre Programmatik und ihr Erscheinungsbild und greifen Themen wie Umwelt, Frauenpolitik, Antidiskriminierung, Immigration auf (Kohl->Merkel).

Ein großer Teil der unteren Mittel- und Arbeiterschichten und Bewohner des ländlichen Raums gehört zu dem oben beschriebenen konservativ-autoritären Milieu. Anders als in der gebildeten Mittel- und Oberschicht hat bei ihnen kein Wertewandel stattgefunden. Die Wähler dieses Milieus fühlen sich von den bestehenden Parteien immer weniger repräsentiert. Die bestehenden Parteien sind in ihren Augen zu tolerant, zu menschenfreundlich, zu umweltfreundlich, zu weltoffen, zu gebildet. Ihre autoritären, ausländerfeindlichen, frauenfeindlichen, nationalistischen, intoleranten, aggressiv-männlichen Ansichten und Einstellungen finden die Wähler dieses Milieus in den bestehenden 'modernen' Parteien heute nicht mehr genügend wieder - anders als noch zu Zeiten von Alfred Dregger, Franz Josef Strauß, Heinrich Lummer ("der Mann fürs Grobe"), Roland Koch ("Kinder statt Inder"), Helmut Kohl, Helmut Schmidt, Holger ("Dachlatten") Börner und Gerhard Schröder (Frauenpolitik ist dummes "Gedöns"). Vor jeder Wahl kamen früher von Spitzenpolitikern einige rechtspopulistische Sprüche, um die "Hoheit über die Stammtische" zu erhalten und sich Stimmen aus dem BILD-Zeitung lesenden Teil der Bevölkerung zu sichern. Angesichts der Liberalisierung der Volksparteien wird nun ein Teil des konservativ-autoritären Milieus zu Nichtwählern oder Wählern von rechtspopulistischen Parteien (AfD ab 2013). Die Wahlerfolge der Rechtspopulisten stellen also keine Rechtsentwicklung der Gesellschaft dar, sondern sind im Gegenteil zum Teil eine Folge der kulturellen Liberalisierung der Gesellschaft und der Volksparteien.

Der oben beschriebene Wandel der Beschäftigungsstruktur wird von den Rechtspopulisten verbal bekämpft: steigender Akademikeranteil ("abgehobene Eliten"), steigender Ausländeranteil ("Ausländer raus"), steigender Frauenanteil ("Genderwahnsinn"). Rechtspopulisten werden überdurchschnittlich von nichtakademischen deutschen Männern gewählt. Hinter dem Hass auf die moderne, liberale, pluralistische, gebildete Gesellschaft verbirgt sich vermutlich auch der Frust der nichtakademischen deutschen Männer über den Verlust ihrer Privilegien: die Zeiten, in denen sie über 80% der Erwerbstätigen stellten, im Betrieb das Sagen hatten, sich im Haushalt von ihren Frauen bedienen ließen, während nur einige wenige 'Fremdarbeiter' in Baracken am Rande der Fabrikgelände wohnten, werden nicht mehr zurückkommen. Wahlanalysen zeigen, dass die Wähler der Rechtspopulisten nicht zu den ärmsten der Gesellschaft gehören. Rechtspopulisten sind nicht die ökonomischen, sondern die kulturellen Modernisierungsverlierer.

Das gering qualifizierte Dienstleistungsproletariat besteht zu einem wachsenden Teil aus Migranten und wählt überhaupt nicht, weil viele Migranten mangels Staatsbürgerschaft nicht wählen können und keine Partei ihre Interessen vertritt.

Ausblick

Welche Trends bezüglich des sozialen Wandels und des Wahlverhaltens lassen sich vorhersagen? Der Wandel der Sozialstruktur setzt sich fort: Zuwachs an hoch qualifizierten und bezahlten Angestellten (steigende Akademikerquote), Rückgang an Industrie- und Büroarbeitern, sowie Gewerbetreibende im ländlichen Raum, Zuwachs an gering qualifizierten und bezahlten Beschäftigten im Dienstleistungssektor. Die räumliche Konzentration der Bevölkerung setzt sich fort: Wachstum der Beschäftigung in den Dienstleistungsmetropolen mit den Zukunftsbranchen, Schrumpfung der Beschäftigung in den Industriestädten und im ländlichen Raum.

Durch diesen Wandel der Sozialstruktur, durch das steigende Bildungsniveau, durch die Verstädterung und durch den wachsenden Wohlstand der Mittel- und Oberschichten wächst das postmaterialistische Wählerpotential, während das konservativ-autoritäre Wählerpotential aus denselben Gründen schrumpft. Durch den Geburtenrückgang der deutschen Bevölkerung werden viele ungelernte und unbeliebte Tätigkeiten zunehmend von Immigranten ausgeübt. Auch dadurch schrumpft das deutsche konservativ-autoritäre Wählerpotential. Während jahrzehntelang die deutsche konservativ-autoritäre Kultur als Standard der Nation galt – trotz ein paar verrückter Studenten und Gastarbeiter -, wird sie jetzt von 'liberalen städtischen Eliten' und fremdartigen Immigranten in die Zange genommen.

Die beiden Volksparteien stehen vor dem Problem, dass ihre gebildete, städtische Wählerschaft sich kulturell in Richtung Postmaterialismus verändert, ihre bildungsfernere Wählerschaft in den Industrierevieren und auf dem Land bislang jedoch nicht. Wenn die Volksparteien sich 'modernisieren', verlieren sie Wähler an die rechtspopulistische Konkurrenz, wenn nicht, verlieren sie Wähler an die liberale, grüne oder linke Konkurrenz. Die Volksparteien befinden sich in einem Dilemma: sie verlieren Stimmen, egal was sie tun und können so ihrer Schrumpfung nicht entgehen. Auch die Linkspartei ist in diesem Dilemma: Sarah Wagenknecht möchte mit ihrer Bewegung ‚Aufstehen‘ den Rechtspopulisten die konservativen Modernisierungsverlierer abwerben. Wenn dies zur Identität der Partei würde, dürfte sie ihre linken akademischen Wähler verlieren.

Die zunehmende Heterogenität der Gesellschaft - sowohl ökonomisch wie kulturell - erzeugt eine zunehmend heterogene Parteienlandschaft. Regierungen sind nur noch als Koalitionen verschiedener Parteien möglich.

 

Europa

Ein Blick in das Europaparlament zeigt, dass die Parteienlandschaft in den anderen west- und nordeuropäischen Ländern ähnlich aussieht wie in Deutschland. In Osteuropa sind die grünen und linksliberalen Parteien dagegen schwächer und die rechtspopulistischen Parteien stärker als in West- und Nordeuropa. Allerdings ist auch die Sozialstruktur dort anders: der Dienstleistungssektor und die gebildeten Mittel- und Oberschichten sind kleiner, die traditionelle Arbeiterschicht größer - immerhin ist Osteuropa Ziel der Auslagerung der arbeitsintensiven Industriebranchen aus den Hochlohnländern in West- und Nordeuropa. Außerdem sind sie Herkunftsländer der Migranten, die in West- und Nordeuropa die unbeliebten Tätigkeiten im Niedriglohnsektor verrichten. Südeuropa liegt hinsichtlich Sozialstruktur und Parteienlandschaft irgendwo zwischen West und Ost.

Allerdings findet in diesen Ländern derselbe demografische Wandel statt wie im Westen: die Geburtenraten sind teilweise niedriger als im Westen, das Bildungsniveau der jungen Generation gleicht sich dem des Westens an, die Löhne steigen. Man darf gespannt sein, ob Ost- und Südeuropa zeitlich versetzt dieselbe Entwicklung durchläuft wie West- und Nordeuropa, oder ob es für immer der Billiglohnsektor für den Westen bleiben wird.

 

 



[1] In den meisten Konsumgüterbranchen ist die Massenproduktion zu einem großen Teil in Niedriglohnländer ausgelagert: Bekleidung, Lederwaren, Elektrogeräte, Haushaltswaren, Möbel, Fahrräder, Spielwaren, Schmuck, Uhren, Sport- und Freizeitartikel, Heimwerkerbedarf, Schreibwaren. In der Automobilindustrie wandert die Produktion von Kleinwagen, Kfz-Teilen, Reifen in Niedriglohnländer ab. In einigen Konsumgüterbranchen befindet sich der überwiegende Teil der Massenproduktion noch in den Hochlohnländern: Lebensmittel, Drogerieartikel, Medikamente (außer Generika), Bücher, Zeitschriften, Baumaterialien, Bauhandwerk.

[2] Die London School of Economics hat die Veränderung der Qualifikationsstruktur von 16 europäischen Ländern zwischen 1993 und 2010 erforscht: in allen sank der Anteil der Beschäftigten mit mittlerer Qualifikation, während der Anteil der hoch qualifizierten und der niedrig qualifizierten Arbeitnehmer zunahm. Quelle: Alternatives Economiques – Hors Série, Feb 2018: ‚Les dangereuses mutations du travail et de l’emploi‘, S. 28

[3] vgl. zahlreiche SINUS-Jugendstudien


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