Der Bau der Eisenbahnverbindungen im 19. Jahrhunderts
erzeugte viele Schrumpfbranchen: Bau von Pferdekutschen, Droschkenbetriebe,
Pferdezucht, sowie die Treidelschifffahrt auf Kanälen, die relativ kurz vorher erst gebaut worden waren (England, Frankreich). Lediglich auf der Kurzstrecke
blieb die Pferdekutsche erhalten. Bis das Auto kam. Es brachte die
Pferdekutsche vollständig zum Verschwinden, aber auch teilweise wieder die Eisenbahn (in den USA
in der Personenbeförderung sogar vollständig).
Nach der Einführung der Schulpflicht in den USA und Europa
im 19. Jahrhundert gab es eine kurze Blüte des Groschenromans, der an jedem
Kiosk erhältlich war. Die Verbreitung des Kinos zu Beginn des 20. Jahrhunderts führte zu einem ersten Einbruch
seines Absatzes. Dann kam ab 1950 der Fernseher, der den Verkauf von Groschenromanen
fast zum Verschwinden brachte und außerdem zu einem Kinosterben führte.
Welches sind nun die aktuellen Schrumpfbranchen der
hochindustrialisierten Länder (Nord-Westeuropa, Nordamerika, Japan)? Es gibt 4
Megatrends, die jeweils Schrumpf- und Wachstumsbranchen erzeugen.
1. Strukturwandel der Industrie: von Massengütern zu High-Tech
Schrumpfbranchen:
Grundstoffe (Kohle, Stahl, Öl, Grundstoffchemie) und
Massenkonsumgüter[1] (Textil,
Elektro, Autos, Haushaltswaren)
Ursachen:
- Rohstoffvorkommen im Inland erschöpfen sich oder lassen sich nicht mehr rentabel ausbeuten
- Die Grundstoffindustrie (Stahl, NE-Metalle, Grundstoffchemie) wandert in die Nähe der Rohstoffvorkommen im Ausland oder an Standorte mit niedrigeren Umweltstandards und Energiekosten
- Technischer Fortschritt: einfache, repetitive Arbeit wird durch Maschinen ersetzt
- Produktionsauslagerung: einfache, repetitive Arbeit, die sich nicht durch Maschinen ersetzen lässt (Textil, Elektromontage), wird in Niedriglohnländer verlagert
Wachstumsbranchen:
Forschungsintensive High-Tech-Industrie (z. B. Maschinenbau,
Energietechnik, Luft- und Raumfahrttechnik, Mikroelektronik, Informations- und
Kommunikationstechnologien, Mess- und Regeltechnik, Medizintechnik, Spezialchemie,
Pharmazeutika, Biotechnologie, neue Werkstoffe, etc.) und
Luxuskonsumgüterindustrie (z. B. Autos, Uhren, Kosmetik, Bekleidung, Möbel,
Yachten, etc. des Premiumsegments)
Ursachen:
- Durch die fortschreitende Mechanisierung und Digitalisierung wächst der Anteil der Maschinenkosten an den Gesamtkosten in allen Branchen und damit die Nachfrage nach Maschinen und Elektronik
- Durch die Globalisierung und das Wachstum der Schwellenländer wächst die Nachfrage nach High-Tech-Produkten, die nur in Hochlohnländern hergestellt werden
- Durch das weltweite Wachstum zusammen mit einer zunehmend ungleichen Einkommensverteilung wächst die Zahl der Reichen und Superreichen und damit die Nachfrage nach Luxuskonsumgütern
Der Anteil der Dienstleistungen am Bruttosozialprodukt
wächst, der Anteil der Industrie schrumpft
Ursachen:
- Rationalisierung durch technischen Fortschritt ist bei Dienstleistungen (z. B. Gesundheitswesen, Pflegedienste, Bildung, Transport, Gastronomie, Reinigung, Handel, Medien, Freizeit, Kultur, Finanzdienstleistungen, Unternehmensberatung, Öffentliche Verwaltung etc.) schwieriger als in der Industrie oder gar nicht möglich
- Auslagerung in Niedriglohnländern ist bei Dienstleistungen (Gesundheitswesen, etc. s.o.) schwieriger als in der Industrie oder gar nicht möglich
- Bei steigendem Einkommen steigt der Anteil der Nachfrage nach Dienstleistungen an den Konsumausgaben (Wohlhabende gehen in Restaurants, Kosmetikstudios, Golf-Clubs, Wellness-Hotels, Theateraufführungen, lassen Umzüge, Reparaturen, Kinder- Altenbetreuung, Reinigung etc. von bezahltem Personal durchführen)
- Durch die Alterung der Gesellschaft wächst die Nachfrage nach Pflege- und medizinischen Dienstleistungen
- In Industrieunternehmen, speziell im High-Tech-Bereich, besteht ein großer Teil der Wertschöpfung ebenfalls aus Dienstleistungen: Verwaltung, Buchhaltung, Forschung und Entwicklung, IT-Administration, Vertrieb, Reinigung, Verpflegung. Dadurch, dass diese Tätigkeiten heute meist in selbständige Unternehmen ausgegliedert werden (Outsourcing), steigt der Dienstleistungsanteil am Bruttosozialprodukt
Durch die Digitalisierung aller Wirtschafts- und Lebensbereiche entstehen Wachstums- und Schrumpfbranchen:
- Online-Handel und Paketdienste statt Einzelhandel
- Softwareentwicklung und IT-Administration statt Schreibbüros, Buchhaltung, Sachbearbeitung
- Rechenzentren statt Aktenordner, Archive
- Smartphones statt Festnetz, Fotoapparate, Fotoentwicklung
- E-Mail, Messaging statt Briefpost, Telegrafie
- Web Sites statt Druck von Zeitungen, Zeitschriften, Werbematerial, Broschüren, Flyer, Formulare, Annoncen, Lexika, Ratgeber, Straßenkarten, Atlanten
- Videostreaming statt Fernsehen, Kino, DVD, Musikstreaming statt CD, E-Books statt Buchdruck
- Video-Konferenzen statt Konferenztourismus
- Online-Banking statt Bankfiliale
- Online-Reisebuchungen statt Reisebüro
Treiber der Digitalisierung:
- Kosteneinsparung für Betriebe und Konsumenten
- Mehr Komfort, Schnelligkeit für Betriebe und Konsumenten
Um die Klimakatastrophe zu verhindern, die endlichen
Ressourcen zu schonen und die Umweltbelastung zu reduzieren muss ein Umbau der
Industriegesellschaft stattfinden:
-
Energiewende:
Schrumpfbranche : Kohle, Erdöl, Atom
Wachstumsbranche: Wind, Solar,
Biogas, Wasserkraft, Energiespeicher, Netzausbau,
Dämmmaterial, Wärmepumpen, Fernwärme, energiesparende
Technologien, alternative Prozessenergie
-
Verkehrswende:
Schrumpfbranche : Auto, Flugzeug, Erdölraffinerien
Wachstumsbranche:
Schienenverkehr, Bus, Schiff, Fahrrad, Batterien, E-Antriebe,
alternative
Kraftstoffe, Infrastruktur für Videokonferenzen/ Home
Office / Online Dienste, Car Sharing
-
Agrarwende:
Schrumpfbranche : Agrarchemie, Gentechnik, Lebensmittelzusätze,
Viehhaltung,
Schlachthöfe, Futtermittel
Wachstumsbranche: ökologischer
Landbau, biologische Lebensmittel, Fleischersatz,
Anbau von
Energiepflanzen / nachwachsenden Rohstoffen
-
Kreislaufwirtschaft:
Schrumpfbranche : Erzbergbau,
Petrochemie
Wachstumsbranche: Recycling, haltbare/reparaturfähige Produkte,
grüne Chemie aus nachwachsenden
Rohstoffen
Die ersten drei Trends (Dienstleistungsgesellschaft, High-Tech-Industrie, Digitalisierung) besitzen eine gewisse Eigendynamik: die
technischen Möglichkeiten, die bestehenden Rohstoffvorräte, die Gesetze der
globalisierten Weltwirtschaft, die Bevölkerungsentwicklung beeinflussen das
Geschehen, das durch keine nationale Regierung grundsätzlich geändert werden
kann. Der ökologische Umbau der Industriegesellschaft ist jedoch ein Projekt,
das gesellschaftlicher Anstrengung bedarf: politische Zielsetzungen (Pariser
Abkommen), staatliche Gesetze und Verordnungen, private und öffentliche
Forschung und Entwicklung, Startup-Companies, gesellschaftliches Engagement,
Änderung des privaten Konsumverhaltens.
Erst wurden die vorhandenen Wälder verfeuert, dann die Kohle, dann das Erdöl - auch ohne den dadurch ausgelösten Klimawandel muss die Energieproduktion irgendwann auf erneuerbare Energiequellen umgestellt und reduziert werden. Es werden wie in den letzten 200 Jahren weiterhin viele Branchen schrumpfen und wachsen. Es ist die Aufgabe der Politik, diesen Strukturwandel zu organisieren und offen zu sagen, dass die Zahl der Arbeitsplätze im Braunkohlebergbau und in der Automobilindustrie schrumpfen wird. Hätte man die Pferdekutschen- oder Kohleöfenindustrie mit Gewalt bis heute erhalten sollen aus Angst vor Wirtschaftslobbys, Gewerkschaften, Rechtspopulisten und Boulevard-Presse?
[1] In den
meisten Konsumgüterbranchen ist die Massenproduktion mittlerweile in
Niedriglohnländer ausgelagert: Bekleidung, Lederwaren, Elektrogeräte, Haushaltswaren,
Möbel, Fahrräder, Heimwerkerbedarf, Spielwaren, Schmuck, Uhren,
Brillen, Freizeit (Garten, Sport, Musik, Camping, etc.), Autos (Kleinwagen,
Kfz-Teile, Reifen). Ausnahmen sind Edelmarkenhersteller und (kunst-)
handwerkliche Produktion des obersten Preissegments, sowie Design und Vertrieb.
In folgenden Konsumgüterbranchen befindet sich der überwiegende Teil der Massenproduktion noch in den Hochlohnländern: Lebensmittel, Drogerieartikel, Medikamente (außer Generika), Bücher, Zeitschriften, Baustoffe, Bauhandwerk, Autos (Premium-, Mittelklasse)