Montag, 19. April 2021

Kleine Geschichte der Schrumpfbranchen

 

Weder Politiker noch Umweltschützer wagen es offen auszusprechen: einige Branchen der Wirtschaft (z. B. Braunkohle, Automobil) werden schrumpfen (müssen). Politiker und Umweltschützer haben Angst vor Wirtschaftslobbys, Gewerkschaften, Rechtspopulisten, Boulevard-Presse, die mit Sicherheit aufschreien werden. Aus dem Grunde ist es von Interesse, mal einen Blick auf die Schrumpfbranchen der Wirtschaftsgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte zu werfen.

Die Frühindustrialisierung Europas Ende des 18. Jahrhunderts beruhte auf der Energiequelle Holz: es wurde von Köhlern zu Holzkohle verarbeitet, die in Eisenhütten, im Schmiedehandwerk, beim Brennen von Glas, Keramik, Ziegelsteinen verwendet wurde. Im Haushalt wurde Holzkohle oder Brennholz verwendet. Schiffe, Pferdekarren, Möbel, Fässer, und (teilweise) Gebäude waren ebenfalls aus Holz. Der größte Teil der natürlich gewachsenen Mischwälder in Europa wurde in dieser Zeit abgeholzt, wobei das Holz zum Teil vor Ort verbrannt wurde (Köhlereien, Glas- Eisenhütten etc. waren oft direkt im Wald), zum Teil in Flößen in die Städte transportiert wurde. Die Wälder verhalfen den adligen Waldbesitzern zu zusätzlichem Reichtum und wurden deshalb als Holzplantagen in Monokultur wieder aufgeforstet, was seitdem das Spazierengehen im Wald ermöglicht (was vorher ebenso unmöglich wie unüblich war). 

Dann kam die Steinkohle, und damit Bergbau, Stahlindustrie, Dampfmaschinen, -lokomotiven, -schiffe, Kohlechemie, Kohlevergasung und im Haushalt Kohleöfen und -herde. Die holzbasierte Produktion in den Waldgebieten verschwand relativ unbemerkt. Die Industrie zog in die Kohlereviere Ruhrgebiet, Saarland, Lothringen, Nordengland, Wales, Wallonien, etc. Dann kam die Elektrizität, das Erdöl und der Verbrennungsmotor - und die kohlebasierten Branchen schrumpften wieder. Stahl wurde zum Teil durch Kunststoff ersetzt. Im Haushalt wurde die Kohle durch  Heizöl, Gas und Strom ersetzt.

Der Bau der Eisenbahnverbindungen im 19. Jahrhunderts erzeugte viele Schrumpfbranchen: Bau von Pferdekutschen, Droschkenbetriebe, Pferdezucht, sowie die Treidelschifffahrt auf Kanälen, die relativ kurz vorher erst gebaut worden waren (England, Frankreich). Lediglich auf der Kurzstrecke blieb die Pferdekutsche erhalten. Bis das Auto kam. Es brachte die Pferdekutsche vollständig zum Verschwinden, aber auch teilweise wieder die Eisenbahn (in den USA in der Personenbeförderung sogar vollständig).

Nach der Einführung der Schulpflicht in den USA und Europa im 19. Jahrhundert gab es eine kurze Blüte des Groschenromans, der an jedem Kiosk erhältlich war. Die Verbreitung des Kinos zu Beginn des 20. Jahrhunderts führte zu einem ersten Einbruch seines Absatzes. Dann kam ab 1950 der Fernseher, der den Verkauf von Groschenromanen fast zum Verschwinden brachte und außerdem zu einem Kinosterben führte.

Welches sind nun die aktuellen Schrumpfbranchen der hochindustrialisierten Länder (Nord-Westeuropa, Nordamerika, Japan)? Es gibt 4 Megatrends, die jeweils Schrumpf- und Wachstumsbranchen erzeugen.


1.       Strukturwandel der Industrie: von Massengütern zu High-Tech

Schrumpfbranchen:

Grundstoffe (Kohle, Stahl, Öl, Grundstoffchemie) und Massenkonsumgüter[1] (Textil, Elektro, Autos, Haushaltswaren)

Ursachen:

  • Rohstoffvorkommen im Inland erschöpfen sich oder lassen sich nicht mehr rentabel ausbeuten 
  • Die Grundstoffindustrie (Stahl, NE-Metalle, Grundstoffchemie) wandert in die Nähe der Rohstoffvorkommen im Ausland oder an Standorte mit niedrigeren Umweltstandards und Energiekosten
  • Technischer Fortschritt: einfache, repetitive Arbeit wird durch Maschinen ersetzt
  • Produktionsauslagerung: einfache, repetitive Arbeit, die sich nicht durch Maschinen ersetzen lässt (Textil, Elektromontage), wird in Niedriglohnländer verlagert

Wachstumsbranchen:

Forschungsintensive High-Tech-Industrie (z. B. Maschinenbau, Energietechnik, Luft- und Raumfahrttechnik, Mikroelektronik, Informations- und Kommunikationstechnologien, Mess- und Regeltechnik, Medizintechnik, Spezialchemie, Pharmazeutika, Biotechnologie, neue Werkstoffe, etc.) und Luxuskonsumgüterindustrie (z. B. Autos, Uhren, Kosmetik, Bekleidung, Möbel, Yachten, etc. des Premiumsegments)

Ursachen:

  • Durch die fortschreitende Mechanisierung und Digitalisierung wächst der Anteil der Maschinenkosten an den Gesamtkosten in allen Branchen und damit die Nachfrage nach Maschinen und Elektronik
  • Durch die Globalisierung und das Wachstum der Schwellenländer wächst die Nachfrage nach High-Tech-Produkten, die nur in Hochlohnländern hergestellt werden
  • Durch das weltweite Wachstum zusammen mit einer zunehmend ungleichen Einkommensverteilung wächst die Zahl der Reichen und Superreichen und damit die Nachfrage nach Luxuskonsumgütern

 

 2.  Von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft

Der Anteil der Dienstleistungen am Bruttosozialprodukt wächst, der Anteil der Industrie schrumpft

Ursachen:

  • Rationalisierung durch technischen Fortschritt ist bei Dienstleistungen (z. B. Gesundheitswesen, Pflegedienste, Bildung, Transport, Gastronomie, Reinigung, Handel, Medien, Freizeit, Kultur, Finanzdienstleistungen, Unternehmensberatung, Öffentliche Verwaltung etc.) schwieriger als in der Industrie oder gar nicht möglich
  • Auslagerung in Niedriglohnländern ist bei Dienstleistungen (Gesundheitswesen, etc. s.o.) schwieriger als in der Industrie oder gar nicht möglich
  • Bei steigendem Einkommen steigt der Anteil der Nachfrage nach Dienstleistungen an den Konsumausgaben (Wohlhabende gehen in Restaurants, Kosmetikstudios, Golf-Clubs, Wellness-Hotels, Theateraufführungen, lassen Umzüge, Reparaturen, Kinder- Altenbetreuung, Reinigung etc. von bezahltem Personal durchführen)
  • Durch die Alterung der Gesellschaft wächst die Nachfrage nach Pflege- und medizinischen Dienstleistungen
  • In Industrieunternehmen, speziell im High-Tech-Bereich, besteht ein großer Teil der Wertschöpfung ebenfalls aus Dienstleistungen: Verwaltung, Buchhaltung, Forschung und Entwicklung, IT-Administration, Vertrieb, Reinigung, Verpflegung. Dadurch, dass diese Tätigkeiten heute meist in selbständige Unternehmen ausgegliedert werden (Outsourcing), steigt der Dienstleistungsanteil am Bruttosozialprodukt

 

 3.       Digitalisierung aller Wirtschaft- und Lebensbereiche

Durch die Digitalisierung aller Wirtschafts- und Lebensbereiche entstehen Wachstums- und Schrumpfbranchen:

  • Online-Handel und Paketdienste statt Einzelhandel
  • Softwareentwicklung und IT-Administration statt Schreibbüros, Buchhaltung, Sachbearbeitung
  • Rechenzentren statt Aktenordner, Archive
  • Smartphones statt Festnetz, Fotoapparate, Fotoentwicklung
  • E-Mail, Messaging statt Briefpost, Telegrafie
  • Web Sites statt Druck von Zeitungen, Zeitschriften, Werbematerial, Broschüren, Flyer, Formulare, Annoncen, Lexika, Ratgeber, Straßenkarten, Atlanten
  • Videostreaming statt Fernsehen, Kino, DVD, Musikstreaming statt CD, E-Books statt Buchdruck
  • Video-Konferenzen statt Konferenztourismus
  • Online-Banking statt Bankfiliale
  • Online-Reisebuchungen statt Reisebüro

Treiber der Digitalisierung:

  • Kosteneinsparung für Betriebe und Konsumenten
  • Mehr Komfort, Schnelligkeit für Betriebe und Konsumenten

 4.       Ökologischer Umbau der Industriegesellschaft

Um die Klimakatastrophe zu verhindern, die endlichen Ressourcen zu schonen und die Umweltbelastung zu reduzieren muss ein Umbau der Industriegesellschaft stattfinden:

-          Energiewende:

     Schrumpfbranche    :  Kohle, Erdöl, Atom

     Wachstumsbranche:  Wind, Solar, Biogas, Wasserkraft, Energiespeicher, Netzausbau,

                                        Dämmmaterial, Wärmepumpen, Fernwärme, energiesparende

                                        Technologien, alternative Prozessenergie

 

-          Verkehrswende:

     Schrumpfbranche    :  Auto, Flugzeug, Erdölraffinerien

     Wachstumsbranche:  Schienenverkehr, Bus, Schiff, Fahrrad, Batterien, E-Antriebe,

                                        alternative Kraftstoffe, Infrastruktur für Videokonferenzen/ Home

                                        Office / Online Dienste, Car Sharing

 

-          Agrarwende:

     Schrumpfbranche    :  Agrarchemie, Gentechnik, Lebensmittelzusätze, Viehhaltung,

                                        Schlachthöfe, Futtermittel

     Wachstumsbranche:  ökologischer Landbau, biologische Lebensmittel, Fleischersatz,

                                        Anbau von Energiepflanzen / nachwachsenden Rohstoffen

 

 

-          Kreislaufwirtschaft:

     Schrumpfbranche    : Erzbergbau, Petrochemie

     Wachstumsbranche: Recycling, haltbare/reparaturfähige Produkte,  

                                       grüne Chemie aus nachwachsenden Rohstoffen

 

 5.       Ausblick

Die ersten drei Trends (Dienstleistungsgesellschaft, High-Tech-Industrie, Digitalisierung) besitzen eine gewisse Eigendynamik: die technischen Möglichkeiten, die bestehenden Rohstoffvorräte, die Gesetze der globalisierten Weltwirtschaft, die Bevölkerungsentwicklung beeinflussen das Geschehen, das durch keine nationale Regierung grundsätzlich geändert werden kann. Der ökologische Umbau der Industriegesellschaft ist jedoch ein Projekt, das gesellschaftlicher Anstrengung bedarf: politische Zielsetzungen (Pariser Abkommen), staatliche Gesetze und Verordnungen, private und öffentliche Forschung und Entwicklung, Startup-Companies, gesellschaftliches Engagement, Änderung des privaten Konsumverhaltens.

Erst wurden die vorhandenen Wälder verfeuert, dann die Kohle, dann das Erdöl  - auch ohne den dadurch ausgelösten Klimawandel muss die Energieproduktion irgendwann auf erneuerbare Energiequellen umgestellt und reduziert werden. Es werden wie in den letzten 200 Jahren weiterhin viele Branchen schrumpfen und wachsen. Es ist die Aufgabe der Politik, diesen Strukturwandel zu organisieren und offen zu sagen, dass die Zahl der Arbeitsplätze im Braunkohlebergbau und in der Automobilindustrie schrumpfen wird. Hätte man die Pferdekutschen- oder Kohleöfenindustrie mit Gewalt bis heute erhalten sollen aus Angst vor Wirtschaftslobbys, Gewerkschaften, Rechtspopulisten und Boulevard-Presse?




[1] In den meisten Konsumgüterbranchen ist die Massenproduktion mittlerweile in Niedriglohnländer ausgelagert: Bekleidung, Lederwaren, Elektrogeräte, Haushaltswaren, Möbel, Fahrräder, Heimwerkerbedarf, Spielwaren, Schmuck, Uhren, Brillen, Freizeit (Garten, Sport, Musik, Camping, etc.), Autos (Kleinwagen, Kfz-Teile, Reifen). Ausnahmen sind Edelmarkenhersteller und (kunst-) handwerkliche Produktion des obersten Preissegments, sowie Design und Vertrieb.

In folgenden Konsumgüterbranchen befindet sich der überwiegende Teil der Massenproduktion noch in den Hochlohnländern: Lebensmittel, Drogerieartikel, Medikamente (außer Generika), Bücher, Zeitschriften, Baustoffe, Bauhandwerk, Autos (Premium-, Mittelklasse)