Sonntag, 10. März 2019

Mehr oder weniger Freihandel?


Der Freihandel ist unter Beschuss von rechts und links. Befürworter des Freihandels behaupten, dass immer alle Handelspartner profitieren: es werden mehr Arbeitsplätze geschaffen durch zusätzliche Exporte als durch zusätzliche Importe vernichtet werden. Jedes Land produziert, was es am besten kann. Arbeitskräfte wandern in allen Ländern von unproduktiven zu produktiven Wirtschaftssektoren und erhöhen so den Wohlstand. Freihandel ist eine Win-Win-Situation.

Aus dem linken Lager kommt die Kritik, dass der Freihandel Arbeitsplätze vernichtet und die Löhne senkt: die Produktion wandert an den international kostengünstigsten Standort. Durch die Konzentration der Produktion in größere
Betriebe, die den gesamten Weltmarkt beliefern, und durch die verschärfte Konkurrenz werden alle Rationalisierungsmöglichkeiten ausgenutzt. Die vorhandene Nachfrage wird von immer effizienteren Betrieben mit immer weniger Arbeitskräften befriedigt. Gleichzeitig wandern die Betriebe an den Standort mit den niedrigsten Löhnen.  Die steigende Arbeitslosigkeit und die Drohung der Produktionsverlagerung in Länder mit niedrigeren Löhnen senken das Lohnniveau überall. Die Beschäftigten aller Handelspartner verlieren. Freihandel ist eine Lose-Lose-Situation.

Das rechte, nationalistische Lager behauptet, dass durch den Freihandel das Ausland der eigenen Nation Schaden zufügt. Durch den Import von Waren werden Arbeitsplätze im Inland vernichtet. Folglich sollen durch Importbeschränkungen Arbeitsplätze im Ausland vernichtet werden und ins Inland geholt werden. Gleichzeitig sollen andere Länder ihre Grenzen öffnen und Arbeitsplätze opfern, damit neue Exportmöglichkeiten für die eigene Nation geschaffen werden. Die eigene Nation soll auf Kosten des Auslands wachsen. Da andere Länder nicht freiwillig auf Wohlstand und Arbeitsplätze verzichten, muss man sie unter Druck setzen, bedrohen und erpressen. Handel ist eine Win-Lose-Situation, wobei das Land mit der aggressivsten Handelspolitik und dem größten Erpressungspotential gewinnt.

Wer hat nun recht? Durch das NAFTA-Abkommen von 1994 haben Millionen von mexikanischen Maisbauern ihre Existenz verloren, weil der Markt von billigem US-amerikanischen Mais überschwemmt wurde. Hunderttausende von US-amerikanischen Industriearbeiter haben ihre Arbeit verloren, weil ihre Betriebe nach Mexiko verlagert wurden (wo ein Teil der arbeitslosen Landbevölkerung für extrem niedrige Löhne neue Arbeit fand).  Die Integration Süd- und Osteuropas in den europäischen Binnenmarkt in den 1980er und 1990er Jahren hat Millionen von Arbeitsplätzen vernichtet – zunächst in Süd- und Osteuropa selbst, weil ihre Industrie nicht international wettbewerbsfähig war, dann in den Hochlohnländern, weil lohnintensiven Betriebe nach Süd- und Osteuropa verlagert wurden. Die freigesetzten Arbeitskräfte sind nicht, wie von der Freihandelsdoktrin vorhergesagt, in produktivere Wirtschaftssektoren gewechselt, sondern arbeiten in prekären Niedriglohnjobs im eigenen Land oder als Migranten in anderen Ländern oder sind dauerhaft arbeitslos. Die Wirtschaftsgeschichte bestätigt die linke Kritik: Freihandel ist keine Win-Win- sondern eine Lose-Lose-Situation für alle beteiligten Länder. Allerdings gibt es auch ein paar Gewinner: niedrige Preise nutzen den Konsumenten und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Freihandelszone gegenüber Drittstaaten. Multinationale Konzerne können ungestört durch Zölle und sonstige Handelshemmnisse ihrer Geschäftstätigkeit nachgehen und ihre Gewinne erhöhen. Ihre Machtposition gegenüber nationalen Regierungen ist gestärkt, da sie jederzeit mit Produktionsverlagerung drohen können.

Wie geht es nun weiter? Zölle gibt es heute zwischen Industrieländern kaum noch, nur in Ländern der Dritten Welt existieren noch manche Importbeschränkungen zum Schutz ihrer schwächeren Ökonomien. Damit sind die Freihandelsbefürworter nicht zufrieden. Es sollen nun auch die ‚nichttarifären Handelshemmnisse‘ zwischen Industrieländern beseitigt werden, d.h. unterschiedliche Produktstandards, die den Handel behindern. Der größte Teil der EU-Verordnungen dient der Vereinheitlichung von Produktstandards. Auch die geplanten Freihandelsabkommen zwischen der EU und anderen Industrieländern (USA, Kanada, Japan) dienen diesem Ziel. Gleichzeitig fordern die Industrieländer den Abbau der noch bestehenden Importbeschränkungen der armen Länder des Südens.

Aus dem linken Lager werden die Freihandelsabkommen zwischen Industrieländern abgelehnt, weil ‚Vereinheitlichung von Produktstandards‘ bedeutet, dass Umwelt- und Sozialstandards (z.B. Verbot von genmanipuliertem Mais) zu unerlaubten Handelshemmnissen erklärt werden. Umwelt- oder sozialpolitische Forderungen lassen sich dann nicht mehr durchsetzen, weil sie gegen bestehende Freihandelsabkommen verstoßen. Freihandelsabkommen zwischen den Industrieländern und den armen Ländern des Südens werden abgelehnt, weil sie die Märkte der ärmeren Länder, die zur Zeit noch durch Importbeschränkungen vor der Konkurrenz der wirtschaftlich überlegenen Industrieländer geschützt werden, öffnen wollen und so Arbeitsplätze vernichten, die Armut vergrößern und die Chancen für eine nachholende Entwicklung verringern.

Während die Freihandelsbefürworter eine völlige Liberalisierung des Welthandels anstreben und die linken Kritiker dies ablehnen, nimmt das nationalistische Lager der Industrieländer eine widersprüchliche Zwitterposition ein:  andere Länder (inclusive der armen des Südens) sollen ihre Märkte für Produkte der eigenen Nation öffnen, während Importe aus denselben Ländern behindert werden. Ziel ist, den Wohlstand der eigenen Nation auf Kosten aller anderen zu erhöhen. Das kann funktionieren, wenn nur ein Land diese Politik verfolgt. Wenn jedoch alle Industrieländer diese Strategie gleichzeitig verfolgen, kann sie nicht funktionieren, weil es durch die Importbeschränkungen aller Länder keine Exportmärkte mehr gibt. Industrieländer verlieren Exportmärkte für ihre hochproduktiven Betriebe und holen Betriebe mit niedriger Produktivität durch Importbeschränkungen zurück, d.h. es müssten Akademiker zu Textil-, Stahl- und Fließbandarbeitern umgeschult werden. Die exportorientierten Niedriglohnländer in Osteuropa und Asien würden kollabieren. Es würde zu Streit, Hass, Vergeltungsmaßnahmen und  Handelskriegen kommen. In einer Welt mit abgeschotteten Binnenmärkten mit schrumpfendem Handel wird der Wohlstand in allen Ländern sinken.

Fazit: sowohl der totale Freihandel wie die nationalistische Handelspolitik führen in die Katastrophe. Der Welthandel muss durch staatliche Eingriffe so gesteuert werden, dass der Wohlstand in allen Ländern steigt. Wirtschaftlich schwächere Staaten des Südens müssen sich schützen können. Alle Staaten müssen sich gegen Sozialdumping (Produktion unter Missachtung der ILO-Kernarbeitsnormen) schützen können. Umwelt- und Sozialstandards haben Vorrang vor dem Freihandel. Eine solche ‚solidarische Handelspolitik‘ sollte in Handelsabkommen geregelt werden. Die UN könnte entsprechende Musterabkommen zur Verfügung stellen und überwachen. Nur dann könnte der internationale Handel zu einer Win-Win-Situation für alle Länder werden.