Samstag, 26. Januar 2019

Ist Europa noch zu retten?



Die Europäische Union ist unter Beschuss von rechts und links. Auf beiden Seiten gleichermaßen beliebt ist der Vorwurf, dass es sich bei der EU um ein Projekt abgehobener Eliten oder um ein bürokratisches Monster handelt. Damit enden allerdings die Gemeinsamkeiten zwischen rechts und links. Die Kritik aus dem rechten, nationalistischen Lager besteht darin, dass die EU die nationale Souveränität einschränkt, zu Kompromissen mit anderen Ländern zwingt, zu Ausgaben
führt, die dem eigenen Land nichts nutzen, sowie Waren, Kapital und vor allem Menschen aus anderen Ländern Zugang zum eigenen Land verschafft. Das eigene Land wird von den anderen EU-Ländern ausgenutzt, benachteiligt, unterdrückt. Dies sei die Ursache aller wirtschaftlichen Probleme wie Arbeitslosigkeit, Ungleichheit, Armut, Schulden, Verschlechterung der Lebensbedingungen. Die Konsequenz ist die Forderung nach mehr nationalem Egoismus, Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen Ländern und nationaler Abschottung: keine Kompromisse mit anderen Ländern, keine finanzielle Solidarität mit anderen Ländern, und Begrenzung des Zugangs von Waren, Kapital und Migranten aus dem Ausland. D.h. Rückkehr zu dem Zustand, der vor den beiden Weltkriegen bestanden hat.

Aus dem linken Lager kommt die Kritik, dass die EU ein neoliberales Projekt ist: die EU institutionalisiert die neoliberalen Strukturreformen – Austerität (z.B. Fiskalpakt), Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung – , so dass sie von einzelnen Ländern nicht mehr zurückgenommen werden können, selbst wenn linke Regierungen an die Macht kämen (s. Griechenland). Die neoliberale Wirtschaftspolitik ist die Ursache aller wirtschaftlichen Probleme wie Arbeitslosigkeit, Ungleichheit, Armut, Schulden, Verschlechterung der Lebensbedingungen.

Die Meinungen im linken Lager sind geteilt bezüglich der Frage, ob die EU reformierbar ist, d.h. in ein soziales Projekt umgewandelt werden kann, oder ob sie als nicht reformierbares Gebilde komplett abgeschafft werden soll (Left Exit). Die reformistische Linke will die EU dazu nutzen, soziale Gerechtigkeit, soziale Sicherheit, Armutsbekämpfung, Kampf gegen den Klimawandel auf europäischer Ebene zu realisieren.  Die antireformistische Linke glaubt, dass diese Ziele nur nach Austritt aus der EU erreichbar sind. Damit decken sich die Austrittsforderungen der antireformistischen Linken mit denen der Rechtspopulisten, auch wenn sie unterschiedlich begründet werden. Der Ausstieg aus der EU ist nur in Kooperation mit rechtsradikalen und nationalistischen Kräften zu verwirklichen (z.B. durch ein Ausstiegsreferendum a la Brexit).  Die Rechtspopulisten dürften dann allerdings die Politik nach einem erfolgreichen Ausstieg bestimmen, da sie momentan einen viel stärkeren Rückhalt in der Bevölkerung haben als die antireformistische Linke. Die antireformistische Linke würde dann zum nützlichen Idioten oder Steigbügelhalter für die Machtergreifung der Rechtspopulisten. Diese dubiose Kooperation hat es bereits bei allen erfolgreichen EU-feindlichen Abstimmungen gegeben (EU-Verfassungsreferenden 2004 in Frankreich und Niederlande, EU- oder Euro-Beitrittsreferenden in Dänemark, Norwegen, Schweden sowie beim Brexit). Rechts und links haben gemeinsam für ein ‚Nein‘ geworben, obwohl sie keine gemeinsame Vision für die Zukunft besaßen.

Welche Zukunftsszenarien für Europa sind denkbar?

Das wahrscheinlichste Szenario: die große Koalition der wirtschaftsliberalen Mainstream-Parteien (Konservative, Liberale, Sozialdemokraten), die Europa seit Jahrzehnten regiert, bleibt bestehen. Ihr neoliberaler Kurs, der die Probleme Europas (Arbeitslosigkeit, Ungleichheit, Armut, Schulden, Verschlechterung der Lebensbedingungen, Klimawandel etc.) bislang nicht gelöst hat, wird dies auch weiterhin nicht tun. Die Unzufriedenheit mit der EU und die Zerfallserscheinungen nehmen zu.

Die genannten Probleme werden allerdings bei dem zweiten Szenario - der Auflösung der EU und der Rückkehr zu einem Europa der Vaterländer - erst recht nicht gelöst: die einzelnen Länder werden versuchen, sich durch protektionistische Maßnahmen Vorteile zu verschaffen und den anderen Ländern zu schaden. Die Wirtschaft schrumpft durch Verlust von Exportmärkten und durch Vertreibung von Migranten. Die Preise steigen durch Zölle, schwankende Wechselkurse, Grenzformalitäten, uneinheitliche Standards und Normen, Fachkräftemangel, negative Skaleneffekte, Wegfall ausländischer Konkurrenz. Konflikte zwischen den egoistischen Nationalstaaten bestimmen die politische und wirtschaftliche Entwicklung. Aufgaben, die eine internationale Kooperation erfordern (Kampf gegen den Klimawandel, Überwindung der nächsten Weltwirtschaftskrise, Regulierung der Finanzmärkte, Umgang mit Flüchtlingsströmen, Friedenssicherung) werden durch den nationalen Egoismus unlösbar.  Der Lebensraum aller Europäer beschränkt sich auf den eigenen Nationalstaat, in dem fast nur noch Angehörige der eigenen Nationalität leben und der grundsätzlich mit allen anderen Nationalstaaten in Konflikt steht. Konflikte eskalieren durch Geschrei der nationalistischen Boulevard-Presse und durch Vergeltungsmaßnahmen bis hin zu Wirtschafts- und realen Kriegen (vgl. Jugoslawien).

Das dritte Szenario ist die Umwandlung der EU in ein soziales Projekt:

Beseitigung des Demokratiedefizits: neue EU-Verfassung: Gesetzgebung primär durch EU-Parlament, zweite Kammer aus Regierungsvertretern der einzelnen Länder – analog zu Bundesrat – mit begrenzter Zustimmungspflicht, Wahl der Kommission durch EU-Parlament, mehr Transparenz, Volksabstimmungen

Neuaufteilung der Kompetenzen zwischen EU und nationaler Ebene (grundsätzlich Aufteilung nach ‚Subsidiaritätsprinzip‘ – staatliche Aufgaben werden auf der niedrigst möglichen Ebene ausgeführt)

Mehr Kompetenzen: Setzen von Mindestnormen im Sozial-, Steuer- und Umweltbereich, Regulierung von Arbeits- und Finanzmärkten, um einen Unterbietungswettbewerb innerhalb von Europa zu verhindern, antizyklische Konjunkturpolitik finanziert über Eurobonds

Weniger Kompetenzen: die EU kann kein Mitgliedsland zu Sparpolitik, Privatisierung und Deregulierung zwingen. Kündigung des Fiskalpakts, Änderung des ESM. Begrenzung der Wettbewerbspolitik (kein Zwang zu Privatisierung, Neudefinition der Subventionsregelungen und Handelshemmnisse). Vielleicht sogar Verlagerung der Agrarsubventionen auf die nationale Ebene.

Beibehaltung der 4 Grundfreiheiten (Personen, Waren, Dienstleistungen, Kapital): Europa wird zum Lebensraum (oder zur 'Heimat') aller Europäer. Aber auch Beibehaltung der Vielfalt der Sozial- und Rechtssysteme – es muss nicht alles vereinheitlicht werden. 

Kurz: die EU wird von einem Instrument zur Institutionalisierung des neoliberalen Austeritäts- und Deregulierungsmodells zu einem Instrument der Verhinderung des Sozial- und Umweltdumpings. Die EU ist nicht mehr eine Bedrohung, sondern ein Garant sozialer Rechte.  Sie kann den Unterbietungswettbewerb bezüglich Steuern, Löhnen, Arbeitnehmerrechte, Sozialleistungen, Umwelt-, Daten-, Verbraucherschutz bremsen, den es sowohl in einer neoliberalen EU wie im Europa der konkurrierenden Vaterländer geben würde. Sie kann die Wirtschaft Europas stabilisieren und Hilfe in Krisen bereitstellen. Auf diese Weise trägt sie dazu bei, die Probleme Europas (Arbeitslosigkeit, Ungleichheit, Armut, Schulden, Verschlechterung der Lebensbedingungen, Klimawandel etc.) zu verringern. Politik wird natürlich weiterhin primär auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene gemacht.

Das Problem ist, dass es zur Zeit keine Mehrheiten für dieses Szenario gibt. Die reformistische Linke ist zur Zeit die schwächste der drei politischen Strömungen in Europa. Sie kann momentan lediglich zu einzelnen Themen Kampagnen organisieren (z.B. Verhinderung der Wasserprivatisierung oder TTIP).  Wenn das wirtschaftsliberale Lager jedoch irgendwann keine Mehrheit mehr in Europa hat, aber nicht mit den rechtspopulistischen EU-Feinden koalieren möchte, eröffnen sich interessante neue Möglichkeiten…. Vielleicht ist die Europäische Union doch noch zu retten.