Montag, 14. Januar 2019

Warum Deutschland Immigration braucht



Welche Trends in Nachfrage und Angebot von Arbeitskräften sind in Deutschland in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zu erwarten?

Trends in der Nachfrage nach Arbeitskräften   

Die Produktionsstruktur Deutschlands verändert sich: in der Industrie wird die Produktion von einfachen Massenkonsumgütern (Textil, Elektro, Autos, Haushaltswaren) und Grundstoffen (Stahl, Chemie, Bergbau) mehr und mehr in Niedriglohnländer bzw. Länder mit niedrigen Sozial- und Umweltstandards ausgelagert. Was bleibt ist die forschungsintensive High-Tech-Industrie (z. B. Maschinenbau, Spezialchemie, Pharma, Medizintechnik, Mikroelektronik, Mess- und Regeltechnik, Luft- und Raumfahrttechnik, etc.) und Luxuskonsumgüterindustrie (z. B. Autos, 
Uhren, Kosmetik, etc. des „Premium Segments“, bei dem hohe Preise zum Geschäftsmodell gehören). Diese gehen zu einem großen Teil in den Export, da überall auf der Welt die Reichen reicher werden und so die Nachfrage nach Luxus- und High-Tech-Produkten steigt. Der Export von hochpreisigen Luxus- und High-Tech-Produkten übersteigt den Import von billigen Massenprodukten, wodurch ein erheblicher Handelsbilanzüberschuss entsteht.

Im Dienstleistungsbereich werden Routinetätigkeiten digitalisiert (Online-Banking statt Bankfilialen, Grafiksoftware statt technische Zeichner, Online-Handel statt Verkäufer) oder ebenfalls in Niedriglohnländer ausgelagert (Buchhaltung, Softwareentwicklung, Call Center). Was bleibt sind die wissensintensiven High-Tech-Branchen:  Finanz-, Unternehmens-, IT-, Internet-Dienstleistungen, Forschung und Entwicklung, Vertrieb - sowie arbeitsintensive Low-Tech-Branchen, die nicht in Niedriglohnländer ausgelagert, mechanisiert oder digitalisiert werden können: Transport, Gastronomie, Bauhandwerk, Reinigungs-, Sicherheits-, Pflegedienste, Erntehelfer, Müllbeseitigung. Der wachsende Wohlstand der Mittel- und Oberschichten führt zu steigender Nachfrage nach Dienstleistungen, die früher in Eigenarbeit im Haushalt erledigt wurden: Reinigung, Alten-/Krankenpflege, Kinderbetreuung, Nachhilfe, Freizeit, Umzug, Reparaturen, Gastronomie, Gartenpflege, Wellness, etc. Die Alterung der Gesellschaft erhöht den Pflegebedarf. Die Digitalisierung erzeugt neue Hilfstätigkeiten bei Paket- und Kurierdiensten, Logistikzentren, Call-Centern, oder als digitale Crowd Worker.

Dieser Wandel der Produktionsstruktur erzeugt einen entsprechenden Wandel der Nachfrage nach Arbeitskräften: wachsender Bedarf an hoch qualifizierten Angestellten (steigende Akademikerquote), rückläufiger Bedarf an Industrie- und Büroarbeitern mit mittlerer Qualifikation, wachsender Bedarf an gering qualifizierten Kräften im Dienstleistungssektor.

Trends im Angebot von Arbeitskräften

Das Angebot an Arbeitskräften ist in Deutschland, wie in den meisten anderen Industrieländern, insgesamt rückläufig: die seit Jahrzehnten sinkenden Geburtenraten führen zu einer ständig sinkenden Erwerbsbevölkerung: es wechseln ständig mehr Personen in den Ruhestand als Berufsanfänger neu hinzukommen. Die formale Qualifikation der ausscheidenden ist dabei weitaus niedriger als der Einsteiger. Das Qualifikationsniveau der Jugendlichen, die ins Berufsleben einsteigen, nimmt kontinuierlich zu - z.B. Schulabschlüsse in Deutschland pro Altersjahrgang

                                     1950     1970    2017
Abitur                              5%     25%     50%
Mittlerer Abschluss       35%     35%     35%
Hauptschulabschluss    60%     40%     15%

Entsprechend steigt kontinuierlich der Anteil an Akademikern und Fachkräften an den Arbeitsuchenden.

  
Verhältnis von Nachfrage und Angebot von Arbeitskräften

Nachfrage und Angebot von Arbeitskräften entwickeln sich teilweise in dieselbe Richtung: sowohl die Nachfrage wie das Angebot von hochqualifizierten Arbeitskräften steigt. Es gibt jedoch auch zunehmende Diskrepanzen zwischen Angebot und Nachfrage: die rückläufige Zahl von Routinetätigkeiten in Industrie und Verwaltung macht zahlreiche ältere Mitarbeiter mit mittlerer Qualifikation arbeitslos. Gleichzeitig klagen fast alle arbeitsintensiven Low-Tech-Branchen über einen Mangel an inländischen Bewerbern für die niedrig qualifizierten Tätigkeiten. Ebenso haben einige unbeliebte Lehrberufe (Bauhandwerk, Bäcker, Kranken-, Altenpfleger) einen Mangel an Bewerbern.

Der Arbeitskräftemangel kann theoretisch behoben werden durch Einsatz von inländischen Arbeitslosen, durch Automatisierung, durch Auslagerung der Produktion ins Ausland oder durch Anwerbung von ausländischen Arbeitnehmern. In vielen Mangelberufen ist die Anwerbung von ausländischen Arbeitnehmern die einzige Alternative, weil (auch arbeitslose) Einheimische die Arbeit nicht machen wollen und eine Mechanisierung oder Verlagerung ins Ausland nicht möglich ist.

Wird der Arbeitskräftemangel gar nicht behoben, leidet die Bevölkerung unter einem sinkenden Lebensstandard – Pflegenotstand, Wartezeiten, lange Anfahrtswege, Notwendigkeit der Eigenarbeit, steigende Preise, sinkende Qualität, schlechte medizinische Versorgung. Wird der Arbeitskräftemangel nicht behoben, wird das Wachstum gebremst: Firmen verlieren Aufträge an ausländische Wettbewerber, weil sie mangels Personal nicht termingerecht liefern können. Firmen verlegen Produktion ins Ausland nicht wegen niedrigeren Löhnen, sondern weil Fachkräfte zu gleichen Löhnen dort verfügbar sind. Deutsche Firmen verlieren durch den Fachkräftemangel den Anschluss im internationalen technologischen Wettbewerb. Die deutsche Wirtschaft verzichtet auf die Nachfrage, die ausländische Arbeitnehmer erzeugt hätten. Die Rentenversicherung und andere Sozialversicherungen verzichten auf Einnahmen.

Die Immigration ist Realität in allen Ländern, deren Wohlstand steigt und deren Geburtenrate sinkt: Europa, Nordamerika, Australien, Russland, Naher Osten, Japan, Singapur, Thailand, Malaysia. Der  steigende Wohlstand ist dabei eine wesentliche Ursache der sinkenden Geburtenrate: in armen Gesellschaften tragen Kinder als billige Arbeitskräfte zum Familieneinkommen bei und stellen eine lebende Altersversicherung dar.  Bei steigendem Wohlstand werden Kinder von einer Einkommensquelle zum Kostenfaktor (Ausbildung, Wohnraum, Unterhalt), während die Altersversorgung durch eigene Rücklagen und öffentliche Sozialversicherungen gewährleistet ist. Die weniger werdenden, gut ausgebildeten Nachkommen wollen keine einfachen, schlecht bezahlten Arbeiten mehr ausüben. Die Immigration beginnt.

Die von Rassisten und Ausländerfeinden behauptete Verdrängung der einheimischen Arbeitskräfte findet nicht statt: ausländische Arbeitskräfte haben genügend Defizite (fehlende Sprachkenntnisse, unzureichende Ausbildung), so dass sie nur dann eingestellt werden, wenn kein einheimischer Bewerber vorhanden ist. Von daher erzeugt Immigration eine Win-Win-Situation: das Aufnahmeland verringert seinen Arbeitskräftemangel, das Herkunftsland profitiert in Form von Überweisungen, Transfer von Know-how, Verringerung der Arbeitslosigkeit. Folglich bedeutet der von Rassisten und Ausländerfeinden geforderte Stopp der Einwanderung eine Lose-Lose-Situation: der Arbeitskräftemangel in den reichen Ländern bleibt bestehen (wodurch Lebensstandard und Wachstum verringert wird), während eine mögliche Verringerung der Armut in den armen Ländern nicht stattfindet (letzteres ist den Rassisten und Ausländerfeinden natürlich egal). Schwachsinniger geht es nicht.

Natürlich kann es nicht die Zukunft der armen Länder sein, für immer die unbeliebte Drecksarbeit für die reichen Länder zu erledigen. Das muss es aber auch nicht: der Export von Arbeitskräften findet nur in bestimmten Entwicklungsphasen statt – so gab es in den 1980er Jahren südkoreanische Krankenschwestern in Deutschland. Heute arbeiten philippinische Krankenschwestern in Südkorea. Italien war jahrzehntelang ein Auswanderungsland – heute arbeiten dort Hunderttausende Einwanderer im Sozialbereich und in der Landwirtschaft. Mit steigendem Wohlstand, der zu einem kleinen Teil auch durch die Emigration erzeugt wird, sinkt die Geburtenrate (s.o.), und der oben beschriebene Wandel von Nachfrage und Angebot auf dem Arbeitsmarkt findet auch in den Herkunftsländern der Arbeitsmigranten statt. Auch Deutschland war im 19. Jahrhundert ein Auswanderungsland – Millionen sind nach Nordamerika, Lateinamerika, Südafrika und Australien ausgewandert, bis der steigende Wohlstand die Geburtenrate so weit reduziert hat, dass es ein Einwanderungsland wurde.