Welche Trends in Nachfrage und Angebot von Arbeitskräften sind in Deutschland in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zu erwarten?
Trends in der
Nachfrage nach Arbeitskräften
Die Produktionsstruktur Deutschlands verändert sich: in der Industrie
wird die Produktion von einfachen Massenkonsumgütern (Textil, Elektro, Autos,
Haushaltswaren) und Grundstoffen (Stahl, Chemie, Bergbau) mehr und mehr in
Niedriglohnländer bzw. Länder mit niedrigen Sozial- und Umweltstandards
ausgelagert. Was bleibt ist die forschungsintensive High-Tech-Industrie (z. B.
Maschinenbau, Spezialchemie, Pharma, Medizintechnik, Mikroelektronik, Mess- und Regeltechnik, Luft- und Raumfahrttechnik, etc.) und Luxuskonsumgüterindustrie (z. B. Autos,
Uhren, Kosmetik, etc. des „Premium
Segments“, bei dem hohe Preise zum Geschäftsmodell gehören). Diese gehen zu
einem großen Teil in den Export, da überall auf der Welt die Reichen reicher
werden und so die Nachfrage nach Luxus- und High-Tech-Produkten steigt. Der
Export von hochpreisigen Luxus- und High-Tech-Produkten übersteigt den Import
von billigen Massenprodukten, wodurch ein erheblicher Handelsbilanzüberschuss
entsteht.
Im Dienstleistungsbereich werden Routinetätigkeiten
digitalisiert (Online-Banking statt Bankfilialen, Grafiksoftware statt
technische Zeichner, Online-Handel statt Verkäufer) oder ebenfalls in
Niedriglohnländer ausgelagert (Buchhaltung, Softwareentwicklung, Call Center). Was bleibt sind die wissensintensiven High-Tech-Branchen: Finanz-, Unternehmens-, IT-, Internet-Dienstleistungen,
Forschung und Entwicklung, Vertrieb - sowie arbeitsintensive Low-Tech-Branchen,
die nicht in Niedriglohnländer ausgelagert, mechanisiert oder digitalisiert
werden können: Transport, Gastronomie, Bauhandwerk, Reinigungs-, Sicherheits-,
Pflegedienste, Erntehelfer, Müllbeseitigung. Der wachsende Wohlstand der Mittel-
und Oberschichten führt zu steigender Nachfrage nach Dienstleistungen, die
früher in Eigenarbeit im Haushalt erledigt wurden: Reinigung,
Alten-/Krankenpflege, Kinderbetreuung, Nachhilfe, Freizeit, Umzug, Reparaturen,
Gastronomie, Gartenpflege, Wellness, etc. Die Alterung der Gesellschaft erhöht
den Pflegebedarf. Die Digitalisierung erzeugt neue Hilfstätigkeiten bei Paket-
und Kurierdiensten, Logistikzentren, Call-Centern, oder als digitale Crowd Worker.
Dieser Wandel der Produktionsstruktur erzeugt einen entsprechenden
Wandel der Nachfrage nach Arbeitskräften: wachsender Bedarf an hoch
qualifizierten Angestellten (steigende Akademikerquote), rückläufiger Bedarf an
Industrie- und Büroarbeitern mit mittlerer Qualifikation, wachsender Bedarf an
gering qualifizierten Kräften im Dienstleistungssektor.
Trends im Angebot von Arbeitskräften
Das Angebot an Arbeitskräften ist in Deutschland, wie in den
meisten anderen Industrieländern, insgesamt rückläufig: die seit Jahrzehnten
sinkenden Geburtenraten führen zu einer ständig sinkenden Erwerbsbevölkerung:
es wechseln ständig mehr Personen in den Ruhestand als Berufsanfänger neu
hinzukommen. Die formale Qualifikation der ausscheidenden ist dabei weitaus
niedriger als der Einsteiger. Das Qualifikationsniveau der Jugendlichen, die
ins Berufsleben einsteigen, nimmt kontinuierlich zu - z.B. Schulabschlüsse in
Deutschland pro Altersjahrgang
1950 1970 2017
Abitur 5% 25% 50%
Mittlerer Abschluss
35% 35% 35%
Hauptschulabschluss 60% 40% 15%
Entsprechend steigt kontinuierlich der Anteil an Akademikern
und Fachkräften an den Arbeitsuchenden.
Verhältnis von
Nachfrage und Angebot von Arbeitskräften
Nachfrage und Angebot von Arbeitskräften entwickeln sich teilweise
in dieselbe Richtung: sowohl die Nachfrage wie das Angebot von
hochqualifizierten Arbeitskräften steigt. Es gibt jedoch auch zunehmende
Diskrepanzen zwischen Angebot und Nachfrage: die rückläufige Zahl von
Routinetätigkeiten in Industrie und Verwaltung macht zahlreiche ältere
Mitarbeiter mit mittlerer Qualifikation arbeitslos. Gleichzeitig klagen fast
alle arbeitsintensiven Low-Tech-Branchen über einen Mangel an inländischen
Bewerbern für die niedrig qualifizierten Tätigkeiten. Ebenso haben einige
unbeliebte Lehrberufe (Bauhandwerk, Bäcker, Kranken-, Altenpfleger) einen
Mangel an Bewerbern.
Der Arbeitskräftemangel kann theoretisch behoben werden
durch Einsatz von inländischen Arbeitslosen, durch Automatisierung, durch
Auslagerung der Produktion ins Ausland oder durch Anwerbung von ausländischen
Arbeitnehmern. In vielen Mangelberufen ist die Anwerbung von ausländischen
Arbeitnehmern die einzige Alternative, weil (auch arbeitslose) Einheimische die
Arbeit nicht machen wollen und eine Mechanisierung oder Verlagerung ins Ausland
nicht möglich ist.
Wird der Arbeitskräftemangel gar nicht behoben, leidet die
Bevölkerung unter einem sinkenden Lebensstandard – Pflegenotstand, Wartezeiten,
lange Anfahrtswege, Notwendigkeit der Eigenarbeit, steigende Preise, sinkende
Qualität, schlechte medizinische Versorgung. Wird der Arbeitskräftemangel nicht
behoben, wird das Wachstum gebremst: Firmen verlieren Aufträge an ausländische
Wettbewerber, weil sie mangels Personal nicht termingerecht liefern können. Firmen
verlegen Produktion ins Ausland nicht wegen niedrigeren Löhnen, sondern weil
Fachkräfte zu gleichen Löhnen dort verfügbar sind. Deutsche Firmen verlieren
durch den Fachkräftemangel den Anschluss im internationalen technologischen
Wettbewerb. Die deutsche Wirtschaft verzichtet auf die Nachfrage, die
ausländische Arbeitnehmer erzeugt hätten. Die Rentenversicherung und andere Sozialversicherungen verzichten auf Einnahmen.
Die Immigration ist Realität in allen Ländern, deren
Wohlstand steigt und deren Geburtenrate sinkt: Europa, Nordamerika, Australien, Russland, Naher Osten, Japan, Singapur, Thailand, Malaysia. Der steigende Wohlstand ist dabei eine wesentliche Ursache der sinkenden Geburtenrate: in armen Gesellschaften tragen Kinder als billige Arbeitskräfte zum Familieneinkommen bei und stellen eine lebende Altersversicherung dar. Bei steigendem Wohlstand werden Kinder von einer
Einkommensquelle zum Kostenfaktor (Ausbildung, Wohnraum, Unterhalt), während die Altersversorgung durch eigene Rücklagen und öffentliche Sozialversicherungen gewährleistet ist. Die weniger werdenden, gut ausgebildeten Nachkommen wollen keine einfachen, schlecht bezahlten Arbeiten mehr ausüben. Die Immigration beginnt.
Die von Rassisten und Ausländerfeinden behauptete
Verdrängung der einheimischen Arbeitskräfte findet nicht statt: ausländische
Arbeitskräfte haben genügend Defizite (fehlende Sprachkenntnisse, unzureichende
Ausbildung), so dass sie nur dann eingestellt werden, wenn kein einheimischer
Bewerber vorhanden ist. Von daher erzeugt Immigration eine Win-Win-Situation:
das Aufnahmeland verringert seinen Arbeitskräftemangel, das Herkunftsland profitiert
in Form von Überweisungen, Transfer von Know-how, Verringerung der
Arbeitslosigkeit. Folglich bedeutet der von Rassisten und Ausländerfeinden
geforderte Stopp der Einwanderung eine Lose-Lose-Situation: der Arbeitskräftemangel
in den reichen Ländern bleibt bestehen (wodurch Lebensstandard und Wachstum
verringert wird), während eine mögliche Verringerung der Armut in den armen
Ländern nicht stattfindet (letzteres ist den Rassisten und Ausländerfeinden
natürlich egal). Schwachsinniger geht es nicht.
Natürlich kann es nicht die Zukunft der armen Länder sein, für
immer die unbeliebte Drecksarbeit für die reichen Länder zu erledigen. Das muss
es aber auch nicht: der Export von Arbeitskräften findet nur in bestimmten
Entwicklungsphasen statt – so gab es in den 1980er Jahren südkoreanische
Krankenschwestern in Deutschland. Heute arbeiten philippinische
Krankenschwestern in Südkorea. Italien war jahrzehntelang ein Auswanderungsland
– heute arbeiten dort Hunderttausende Einwanderer im Sozialbereich und in der Landwirtschaft.
Mit steigendem Wohlstand, der zu einem kleinen Teil auch durch die Emigration
erzeugt wird, sinkt die Geburtenrate (s.o.), und der oben beschriebene Wandel von
Nachfrage und Angebot auf dem Arbeitsmarkt findet auch in den Herkunftsländern
der Arbeitsmigranten statt. Auch Deutschland war im 19. Jahrhundert ein
Auswanderungsland – Millionen sind nach Nordamerika, Lateinamerika, Südafrika
und Australien ausgewandert, bis der steigende Wohlstand die Geburtenrate so
weit reduziert hat, dass es ein Einwanderungsland wurde.