Donnerstag, 10. Januar 2019

Boomende Großstädte und entvölkerte Regionen – warum?



Die Produktionsstruktur Deutschlands verändert sich: in der Industrie wird die Produktion von einfachen Massenkonsumgütern (Textil, Elektro, Autos, Haushaltswaren) und Grundstoffen (Stahl, Chemie, Bergbau) mehr und mehr in Niedriglohnländer bzw. Länder mit niedrigen Sozial- und Umweltstandards ausgelagert. Was bleibt ist die forschungsintensive High-Tech-Industrie (z. B. Maschinenbau, Spezialchemie, Pharma, Luft- und Raumfahrttechnik, etc.) und Luxuskonsum-güterindustrie (z. B. Autos, Uhren, Kosmetik, etc. des „Premium Segments“, bei dem hohe Preise zum Geschäftsmodell gehören). Diese gehen zu einem großen Teil in den Export, da überall auf der Welt die Reichen reicher werden und so die Nachfrage nach Luxus- und High-Tech-Produkten steigt. Der Export von hochpreisigen Luxus- und High-Tech-Produkten übersteigt den Import von billigen Massenprodukten, wodurch ein erheblicher Handelsbilanzüberschuss entsteht.

Im Dienstleistungsbereich werden Routinetätigkeiten digitalisiert (Online-Banking statt Bankfilialen, Grafiksoftware statt technische Zeichner, Online-Handel statt Verkäufer) oder ebenfalls in Niedriglohnländer ausgelagert (Buchhaltung, Softwareentwicklung, Call Center). Was bleibt sind die wissensintensiven High-Tech-Branchen:  Finanz-, Unternehmens-, IT-, Internet-Dienstleistungen, Forschung und Entwicklung, Vertrieb, Bildung, Medien - sowie arbeitsintensive Low-Tech-Branchen, die nicht in Niedriglohnländer ausgelagert, mechanisiert oder digitalisiert werden können: Transport, Gastronomie, Bauhandwerk, Reinigungs-, Sicherheits-, Pflegedienste, Kinderbetreuung, Haushaltshilfen, Müllbeseitigung, Freizeiteinrichtungen.

In der Landwirtschaft findet, ähnlich wie z.B. in Nordamerika, der Übergang von der bäuerlichen zur industriellen Landwirtschaft statt, d.h. es werden zahlreiche Arbeitsplätze durch Zusammenlegung von Betrieben und Mechanisierung vernichtet.

Es findet also ein ständiger Wandel der Produktions- und Beschäftigungsstruktur statt: neue Arbeitsplätze entstehen in den Wachstumsbranchen, Arbeitsplätze in den Schrumpfbranchen verschwinden. Dieser Wandel ist in Deutschland allerdings geografisch sehr ungleich verteilt: in einigen Städten und Regionen verschwinden mehr Arbeitsplätze als neue entstehen - z.B. Ruhrgebiet, neue Bundesländer, einige Mittelstädte wie Wilhelmshaven, Pirmasens, Salzgitter, sowie im ländlichen Raum (Ausnahme touristisch attraktive Regionen wie Alpenvorland oder Schwarzwald). In anderen Städten und Regionen entstehen mehr neue Arbeitsplätze als alte verschwinden - z.B. in den Ballungsgebieten Rhein-Main, Rhein-Neckar, Köln-Düsseldorf, Stuttgart, München, Hamburg, Berlin, sowie in einigen Mittelstädten wie Freiburg, Konstanz, Münster.

Woran liegt’s? Die wissensintensiven High-Tech-Branchen konzentrieren sich auf Groß- und Universitätsstädte mit hoher Freizeitqualität, wo die gesuchten Fachkräfte entweder schon vorhanden sind oder wo sie gerne hinziehen. In den Klein- und Industriestädten und im ländlichen Raum gibt es die in den High-Tech-Branchen benötigten Fachkräfte meist nicht und nur wenige sind bereit, dort hinzuziehen. Vielmehr wandert von dort ein Teil der jungen Generation ab – zunächst wegen Ausbildung und Studium, dann wegen der zukunftsträchtigen Arbeitsplätze in den Dienstleistungsmetropolen. Dieser Effekt wird durch das steigende Bildungsniveau (Anstieg des Anteils Abiturienten am Altersjahrgang von 5% 1950 auf 50% heute) verstärkt.  Manche Firmen verlegen sogar aus dem Grund Verwaltung, Forschung, Entwicklung und Vertrieb in die Großstädte und lassen nur die Produktion in der Provinz. Als Folge dominieren in den Klein- und Industriestädten und im ländlichen Raum eher die schrumpfenden Branchen.

Die steigende Bevölkerungszahl in den Ballungszentren erzeugt als 'Zweitrundeneffekt' eine steigende Nachfrage nach lokalen Dienstleistungen im Bereich Einzelhandel, Bildung, Gesundheit, Freizeit, Rechtsberatung, sowie insbesondere nach gering qualifizierten Tätigkeiten im Bereich Transport, Gastronomie, Pflege, Reinigung, etc. (s.o.). Letztere werden zu einem zunehmenden Anteil durch Migranten aus dem In- und Ausland ausgeübt, da es immer weniger einheimische Bewerber für diese Arbeiten gibt. In den Klein- und Industriestädten und im ländlichen Raum mit schrumpfender Bevölkerung gibt es den Zweitrundeneffekt mit umgekehrtem Vorzeichen: Einzelhandel, Bildungs-, Gesundheits-, Freizeiteinrichtungen etc. verschwinden, was wiederum den Wunsch nach Abwanderung befördert.

Ergebnis: Entvölkerung vieler Regionen auf der einen Seite, wachsende Metropolen mit explodierenden Mieten und überlasteter Infrastruktur auf der anderen Seite, sowie Unzufriedenheit auf beiden Seiten.

Wie kann die Politik da gegensteuern? Zum einen könnte der ländliche und kleinstädtische Raum attraktiver gemacht werden (Ausbau der Infrastruktur, Subventionen = 'Pull Effect'), zum anderen kann die Politik die Konzentration des Wachstums auf die Metropolen bewusst behindern ('Push Effect'). Die Zunahme der Zahl der Arbeitsplätze in den Großstädten ist auch darauf zurückzuführen, dass dort ein neues Bürohochhaus nach dem anderen in den Himmel wächst. Die neue Bürofläche ist schnell vermietet und zieht neue Arbeitnehmer an, die wiederum die Nachfrage nach Wohnraum erhöhen und damit die Mieten in die Höhe treiben sowie Straßen, öffentliche Verkehrsmittel, Schulen etc. überlasten. Würden keine Baugenehmigungen für neue Bürobauten mehr erteilt, wäre diese Entwicklung schnell gestoppt. Firmen auf der Suche nach Büroraum müssten sich nach anderen Standorten umsehen. Investitionen in Bürogebäude würden sich auch außerhalb der Ballungszentren lohnen. Analog könnte man mit Gewerbeflächen verfahren, die sich in Wohngebiete oder Parks umwandeln lassen. Die Wachstumsbranchen müssen dezentralisiert werden, wobei die Ballungszentren bewusst auf Wachstum verzichten müssen. Vorbild sind die Städte Amsterdam und Barcelona, die keine Baugenehmigungen für neue Hotels mehr erteilen, weil sie in den Touristenmassen ertrinken.

Es wird versucht, Mietsteigerungen durch Mietpreisbremsen und Förderung des Wohnungsbaus zu bekämpfen. Dies ist sicher sinnvoll, reicht aber nicht aus, weil dies nicht an der eigentlichen Ursache ansetzt – der steigenden Anzahl von Arbeitsplätzen in den Großstädten. Eine steigende Zahl von Arbeitsplätzen wird bislang von jedem Politiker als Erfolg, nicht als Problem gesehen. Von daher muss hier ein Umdenken stattfinden. Wir brauchen die Einsicht in den Ballungszentren: genug ist genug! Die Dezentralisierung muss in den Katalog der wirtschaftspolitischen Ziele aufgenommen werden. Das ist im Interesse derjenigen, die bereits in den Metropolen wohnen, sowie im Interesse der wirtschaftlich schwächeren Regionen, die bisher zu den Verlierern des Strukturwandels gehört haben. Die räumliche Verteilung der wirtschaftlichen Entwicklung darf nicht dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen werden.